Amalien Jahrhundert

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Amalien Jahrhundert

Gewidmet Amalie Leis

und allen, die ihrer

Heimat beraubt wurden.

Рис.0 Amalien Jahrhundert

Zu uns wandte sich die Abgrundshöhe,

und Gottes Licht erlischt…

Wir wurden in jener Heimat geboren,

die es nicht mehr gibt.

– Boris Tschitschibabin

Prolog

Über Jahrhunderte hinweg zog Russland europäische Siedler an. Unter dem Schutz der großen Fürsten strömten Menschen herbei, die ein besseres Leben suchten. Darunter waren viele Deutsche, die von Armut, Landlosigkeit und religiöser Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der größte Zustrom von Migranten fand in der Ära Katharinas der Großen statt. Ihr Manifest öffnete die Türen zu einem neuen Leben: Den Siedlern wurden Privilegien, Glaubensfreiheit, Selbstverwaltung und Befreiung vom Militärdienst versprochen.

Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich alles. Die russisch-deutschen Beziehungen kühlten ab, und die Emigration kam fast zum Erliegen. Die Behörden führten strenge Maßnahmen ein: Zwangsenteignungen von Land, Aufhebung früherer Privilegien und Einführung der Wehrpflicht. Enttäuscht verließen viele Russlanddeutsche das Land und wanderten nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Amerika aus, wo neue Hoffnung auf sie wartete.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs änderte sich das Schicksal des deutschen Volkes in Russland endgültig. Die Deutschen wurden ihrer rechtlichen Sicherheit beraubt, Schulen und Zeitungen wurden geschlossen, und viele wurden aus den Frontgebieten ausgewiesen. Eine Welle von Pogromen erfasste die Städte, und deutsche Unternehmen und Betriebe in Moskau wurden mit einem Federstrich geschlossen. Die Regierung plante die Massenumsiedlung der Wolgadeutschen nach Sibirien, doch die Revolution von 1917 unterbrach diesen Prozess.

Die Bolschewiki erklärten die Freiheit der Völker, und auf der Landkarte des Landes erschien die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Doch die Jahre relativer Ruhe wurden bald von einer neuen Tragödie abgelöst. Der Zweite Weltkrieg brachte unvorstellbare Grausamkeiten: Das stalinistische Regime beschuldigte das gesamte deutsche Volk des Verrats. Es begannen Massenvertreibungen nach Sibirien und Kasachstan, und per Gesetz wurde die Rückkehr in die angestammten Gebiete verboten.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion fand sich das deutsche Volk über die ehemaligen Republiken verstreut. Für die meisten war die einzige Lösung die Auswanderung nach Deutschland, wo sie ihr Leben von Grund auf neu aufbauen mussten.

Dies ist die Geschichte eines Volkes, das Jahrhunderte voller Prüfungen überlebt hat, dabei aber seinen Geist und den Traum von einer Heimat bewahren konnte…

David. Ein Schmied in der Fremde

Und der Teufel packte die schöne Ingrid, die an einem Sonntagmorgen eilig auf dem Weg zur Messe in die Kirche am Rand von Hannover war, und sie rannte die Straße vor der Kutsche des Barons von Kalenberg. Der Kutscher, der die Gefahr sofort erkannte, zog die Zügel scharf an. Zwei prachtvolle schwarze Hengste, die der eisernen Zügelwirkung gehorchten, schraken laut über das Kopfsteinpflaster und versuchten zu bremsen.

Der süße Dämmerzustand, in den der dicke, prächtig gekleidete Baron in der Kutsche gefallen war, wurde so abrupt unterbrochen, dass sein luxuriöser Perückenaufsatz, verziert mit Locken und bedeckt mit weißem Puder, auf den Boden der Kutsche fiel. Wütend fluchte von Kalenberg, setzte hastig die Perücke wieder auf und schaute aus dem Fenster, indem er den Samtvorhang zur Seite schob.

Auf dem herbstlichen Teppich aus roten Ahornblättern lag eine junge Frau. Ihr prunkvoller grauer Rock mit roten Mustern hob sich leicht, was ihre schlanken Beine in strahlend weißen Strümpfen und verzierten Holzschuhen freilegte. Als sie den Blick aus der Kutsche bemerkte, bedeckte Ingrid hastig ihre Beine, stand auf und begann, ihren Rock abzuschütteln, entschuldigte sich verlegen: „Verzeihen Sie mir.“

Der Baron erstarrte, seine fettigen Augen funkelten vor gierigem Interesse. Als er aus der Kutsche stieg, sprach er mit künstlicher Höflichkeit:

– Aus welchen Himmeln ist dieser Engel zu uns herabgestiegen?

Und so, wie man sagt, verlor von Kalenberg den Kopf. So sehr, dass sein schwarzes Samt-Herz beinahe weich wurde, und die Liebe auf den ersten Blick übernahm ihn völlig.

Ab diesem Sonntag verwandelte sich Ingrids Leben und das ihrer Familie in eine endlose Qual. Der Vater des Mädchens, der Schmied Wolfgang Schmidt, konnte sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen, in so eine Notlage zu geraten.

Baron von Kalenberg, wie ein Jäger, der eine Spur aufgenommen hatte, verfolgte die sechzehnjährige Schönheit auf jedem Schritt. Er suchte nach Begegnungen, überhäufte sie mit Geschenken und Lächeln, als wollte er den Verstand des Mädchens trüben. Aber Wolfgang durchschoss dieses Spiel sofort.

– Wäre es nur der geringste Funken Hoffnung, dass er sie heiratet, – seufzte der Schmied. – Dann könnte man sich mit seinem Alter und seinen Gebrechen irgendwie abfinden. Aber so wird er sich nur vergnügen und sie fallen lassen!

Die Eltern begannen zu fürchten, dass ihre Tochter in eine Geliebte verwandelt werden sollte. Die drei älteren Brüder von Ingrid brüllten vor Wut und waren bereit, ihr Leben zu geben, um die Ehre ihrer Schwester zu verteidigen. Ihr Entschluss erschreckte den Vater, der die heißen Köpfe seiner Söhne mehrmals zur Besinnung brachte, besonders als der aufdringliche Verehrer wieder an der Tür auftauchte.

Der Baron, verwöhnt von Leben und Macht, ertrug keine Ablehnung. Für ihn klang das Wort „Nein“ von Bauern fast wie eine Herausforderung. Gewohnt, sich das Gewünschte mit Gewalt zu nehmen, war er überzeugt: Der Widerstand der Schmidts wäre nur von kurzer Dauer. Denn seine Position im Rathaus und die verwandtschaftlichen Beziehungen seiner Frau ermöglichten es ihm, Intrigen hinter der Fassade des Respekts zu spinnen.

Doch in Ingrid war etwas Besonderes – ihre unschuldige Schönheit wirbelte dem Baron den Kopf mehr durcheinander als all seine bisherigen Liebesabenteuer. Und dann entschloss er sich, die Hindernisse auf seinem Weg zu beseitigen. Mit einer großzügigen Spende an den Priester sorgte von Kalenberg dafür, dass in der Umgebung Gerüchte über die „Unreinheit“ des Schmiedes verbreitet wurden.

– Sie sind Heiden, beten die Geister des Feuers an, – flüsterten die Gemeindemitglieder, immer seltener in die Schmiede kommend. – Wer weiß, was der Teufel damit im Schilde führt!

Kunden, die sich mit den „Häretikern“ nicht einlassen wollten, begannen, andere Handwerker zu suchen. Wolfgang verlor seine Einkünfte, und bald auch sein Geschäft: Eines Nachts ergriff ein rotes Feuer die Schmiede. Es war kein Zufall – es war der letzte Schlag in einer Reihe von Unglücken.

Die ganze Familie Schmidt, erstickend vor Rauch, rannte zwischen dem Brunnen und der brennenden Schmiede hin und her, um unaufhörlich Wasser zu schöpfen. Schmied Wolfgang, sich die Hände verbrennend, rettete aus den Flammen die Überreste seiner Arbeit: Hämmer, Formen, Eisenrohlinge. Aber das Wertvollste war sein Amboss – der Schmiedefeuer, Symbol des Handwerks, und er zog es mühsam mit sich, als er nach draußen kam. Im selben Moment stürzte das Dach der Schmiede hinter ihm ein und warf einen Funkenregen in den nächtlichen Himmel.

Ob es ein Brandanschlag auf Anweisung des Barons war oder eine fanatische Aktion von Nachbarn, die von den Gerüchten erschreckt wurden, spielte jetzt keine Rolle mehr. Die Schmiede war zerstört, und mit ihr die Hoffnung auf ein normales Leben.

– Hier werden wir sicher nicht leben können, – schluchzte die Frau des Schmieds und starrte auf die rauchenden Trümmer. –Wir müssen weg, bevor es noch schlimmer wird.

– Danke dir, heiliger Vater, – sagte Wolfgang unerwartet, machte das Kreuzzeichen und verbeugte sich in Richtung des Kirchturms der Basilika. Die Familienmitglieder starrten ihn erstaunt an.

– Vater, warum dankst du ihm?,– platzte der älteste Sohn heraus. – Hat er uns nicht dieses Elend eingebrockt?

Der Schmied hielt einen Moment inne, als würde er seine Worte abwägen.

– Ja, das stimmt, – sagte er schließlich. – Aber dieser heilige Vater hat uns mit seiner Hand den Weg zur Rettung gezeigt.

Die Familie hörte verblüfft zu, bis Wolfgang seine Gedanken erklärte. An den Türen der Kirche und an anderen wichtigen Orten der Stadt waren kürzlich gedruckte Kopien des Manifestes ihrer Landsfrau – Katharina der Großen – erschienen.

– Das ist unsere Rettung, – sagte der Schmied und öffnete vor seinen Angehörigen den Text des Erlasses.

Das Manifest der Kaiserin verkündete, dass es in den weiten Landstrichen des Russischen Reiches Gebiete gebe, die bereit seien, Siedler aufzunehmen. Katharina versprach den Siedlern Privilegien: Religionsfreiheit, Steuer- und Dienstbefreiung, fruchtbare Böden und die Möglichkeit, ein neues Leben fernab von Vorurteilen und Verfolgung zu beginnen.

– Wenn es hier keinen Platz für uns gibt, – sagte Wolfgang, während er den Amboss umklammerte, – werden wir ihn dort finden, wo wir ehrlich arbeiten und ohne Angst leben können.

So keimte in den Herzen der Familie Schmidt eine neue Hoffnung auf – in die Gebiete zu ziehen, die durch den Erlass der Kaiserin versprochen wurden, wo selbst die Asche ihrer verbrannten Schmiede ein Symbol für einen Neuanfang sein konnte.

Die Familie Schmidt wartete nicht, bis der Sammelpunkt in Hannover mit Siedlern überfüllt war. Die Entscheidung wurde schnell getroffen: Das Haus wurde verkauft, die bescheidene Habe und die Schmiedewerkzeuge wurden auf den Wagen geladen, und sie machten sich auf den Weg. Wolfgang sah sich nicht um. Kein Blick zurück auf die Orte, an denen er geboren wurde, an denen seine Kinder spielten, an denen die Generationen seiner Vorfahren ruhten. Seine Gedanken waren bereits auf die Zukunft gerichtet. Die Kinder waren fast erwachsen, aber die Frau des Schmieds bestand darauf, dass auf dem Wagen auch Platz für die alte Familienschaukel war. Sie war schwer, mit geschmiedeten Mustern und kupfernen Verzierungen, aber Wolfgang sagte nichts. Diese Wiege, als Symbol der Hoffnung auf die Zukunft, erinnerte daran, warum sie ihre Heimat verließen.

Er wusste noch nicht, wie lang und beschwerlich der Weg vor ihnen liegen würde. Zunächst wird ein englisches Dampfschiff sie von Lübeck nach Kronstadt bringen, dann werden kleinere Schiffe sie den Newa hinauf, durch den Schlüsselsburger Kanal nach Ladoga und von dort über den Wolchow bis nach Nowgorod transportieren. Weiter geht es den Fluss hinunter bis Twer, danach auf Schlitten, später mit Pferdeschlitten durch Kostroma, Belozersk, Kirillow, Petrowsk und schließlich Saratow.

Dieser Weg wird sich über Monate hinziehen, und für einige wird er der letzte sein. Die Auswanderer werden die Straße nach Twer „Birkenkreuzweg“ nennen – „Der Weg der Birkenkreuze“. Die Ufer entlang der Route werden von Gräbern gesäumt sein, die mit Kreuzen aus jungen Birken markiert sind.

Unter einem dieser Kreuze wird die Familie Schmidt ihre siebzehnjährige Ingrid zurücklassen. Die Krankheit, die sie auf dem Weg ereilte, war stärker als ihre Hoffnung. Das Fieber riss das Mädchen hinweg und hinterließ bei jedem von ihnen eine Wunde, die weder die Zeit noch das neue Land heilen werden.

Doch der Wagen rollte weiter. Wolfgang, die Zügel fest in der Hand, biss die Zähne zusammen. Sie liefen für die Zukunft. Für diejenigen, die noch nicht geboren waren, für jene, für die die Wiege ein Symbol des neuen Lebens werden sollte, egal zu welchem Preis.

In Saratow übergab die Vormundschaftsbehörde die Familie Schmidt in die Obhut des Dorfschulzen einer bereits gegründeten Kolonie, Herrn Müller. Unter seiner Aufsicht überstanden sie die letzten hundert Werst entlang der Wolga, das Ende ihrer langen und von Verlusten geprägten Reise.

Die Siedlung, in die sie gebracht wurden, war von lebendiger Aktivität erfüllt. Überall standen ordentliche Holzhausbauten, die schnell, aber sorgfältig errichtet worden waren. Zwei Kirchen, eine katholische und eine lutherische, symbolisierten die Einheit in der Vielfalt. Am Ufer der Wolga roch es noch nach frischem Mörtel von der im Bau befindlichen Schmiede aus rohem Stein.

Für Wolfgang war dieser Moment entscheidend: Hier war er erwartet worden. Der Schulze bot ihm sofort die erste Arbeit an – ein Schild für das Dorf zu fertigen. Mit Ehrfurcht und Stolz nahm der Schmied die Aufgabe an. Jeder gotische Buchstabe, glühend rot, wurde mit Liebe zum Handwerk in das Holz eingraviert. Als das Schild „Dorf Müller“ seinen Platz an der Grenze des Dorfes fand, zog es die Aufmerksamkeit aller auf sich, die daran vorbeikamen, und beeindruckte mit seiner Kunstfertigkeit.

Jetzt musste sich die Familie Schmidt in dieser neuen Welt zurechtfinden. Hier, an den östlichen Hängen der Wolga-Hochebene, lebten und arbeiteten Katholiken, Lutheraner, Mennoniten und Baptisten. Sie alle kamen aus verschiedenen Regionen Deutschlands: Bayern, Eisenburg, Darmstadt, Sachsen und Hannover.

Wolfgang sah das geschäftige Treiben um sich und spürte, wie das Leben allmählich einen neuen Sinn bekam. Sie waren nicht nur vor dem Unglück entkommen, sie waren Teil von etwas Größerem geworden – einer Gemeinschaft, in der jeden Tag Hoffnung und Glaube an die Zukunft geboren wurden.

Zum Neid der benachbarten russischen Dörfer florierte das Dorf Müller und atmete eine geordnete Lebensweise. In seinen besten Jahren hatte es alles, was die Bewohner von der Außenwelt unabhängig machte: eine private Schule und eine Ministerialschule gaben den Kindern eine Zukunft, eine Arzt- und Veterinärstation kümmerte sich um das Wohl der Menschen und Tiere.

Die Sparkasse bot den Bewohnern finanzielle Unterstützung, und das Gasthaus – der gemütliche Dorfwirt – diente als Treffpunkt und Erholungsort. Der Stolz des Dorfes war die Ölerei und ein seltenes technisches Wunder in der russischen Provinz – die Dampfmahlmühle von M. Kaufmann, die zum Symbol für Fortschritt und Unternehmertum wurde.

Jeden Freitag erlebte Dorf Müller einen Markt. Das Treiben zog Händler, Bauern und Handwerker aus den nahen und fernen Umgebungen an. Die Läden boten alles, was das Herz begehrte: Sarpenka-Stoffe, Lederwaren, kunstvoll gestrickte Dinge, feine Tischlermöbel und solide Kutschen.

Das Dorf schien die deutsche Liebe zur Ordnung und Arbeit in sich aufgesogen zu haben und wurde zu einer Insel des Wohlstands inmitten der endlosen Weiten der Wolga.

Fast anderthalb Jahrhunderte später bereute der halbblinde alte Mann Adolf Schmidt bitter die Entscheidung seines Urgroßvaters, Deutschland zu verlassen. Die Legende von der schönen Ingrid und dem unheimlichen Baron von Kahlenberg war längst in Vergessenheit geraten und hatte Platz gemacht für neue, weitaus düsterere Kapitel der Familiengeschichte.

Im Sommer 1914 verkündete der Dorfvorsteher bei der Versammlung der Dorfbewohner in Müller, dass der Konflikt zwischen Österreich und Serbien in einen Weltkrieg ausgeartet sei, der auch Russland in seinen Bann gezogen hatte. Bald ergriff eine antideutsche Hysterie das Land. Die Zarenregierung verbot deutsche Versammlungen, Organisationen und die Presse und verhängte zudem ein Verbot für die deutsche Sprache in Schulen, in der Dokumentation und sogar im Alltag. Deutsch zu sprechen wurde zu einem Verbrechen. Das Dorf Müller war fortan auf der Karte als „Kriwzowka“ verzeichnet.

Doch trotz aller Verbote wurden die Deutschen dennoch an die Front geschickt. Nur im Schützengraben, zwischen Explosionen und Tod, konnten sie ungestraft einen Fluch aus Schmerz schreien oder ein Gebet im Angesicht des Todes in ihrer eigenen Sprache murmeln. Das Schlachtfeld wurde für sie zum einzigen Zufluchtsort ihrer Muttersprache.

Adolf war zu alt für den Dienst an der Front, und der jüngere Sohn, Nikolaus, war noch zu jung. Zum Militär eingezogen wurde der älteste Sohn der Familie Schmidt, Franz, der gerade erst geheiratet hatte.

Adolf, der halbblinde alte Mann mit der schweren Last von Verlusten und Bitterkeit, verfluchte alles und jeden. Doch diesmal richteten sich seine Flüche nicht gegen seinen Urgroßvater, der das deutsche Heimatland verlassen hatte, sondern gegen seinen verstorbenen Vater.

– Warum hast du uns damals nicht hier rausgeholt? – jammerte er am Grabstein auf dem Friedhof. – Der Zar selbst hat uns das Recht dazu gegeben. Und jetzt geht dein Enkel in den Krieg!

Adolf sprach vom Manifest des Zaren Alexander II. vom 4. Juni 1871, das alle Privilegien der deutschen Kolonisten aufhob, die ihnen von Katharina der Großen gewährt worden waren. Dieses Gesetz führte die Wehrpflicht für die Auswanderer ein, erlaubte es jedoch denen, die nicht einverstanden waren, Russland innerhalb von zehn Jahren zu verlassen.

Der alte Mann, wie die meisten deutschen Kolonisten, war im Geist des Patriotismus erzogen worden und sah den Dienst für das Wohl Russlands als eine ehrenvolle Pflicht. Aber als der Krieg seine eigene Familie betraf, konnte Adolf mit der Beleidigung und der Angst nicht umgehen. In solchen Momenten bereute er besonders, dass ihre Familie vor fünfundvierzig Jahren nicht den Baptisten und Mennoniten gefolgt war, die nach Argentinien ausgewandert waren, wo ihr Glaube und Leben von Waffen und Gewalt verschont geblieben wären.

Franz Schmidt war der, den man im Dorf den begehrtesten Bräutigam nannte. Groß, stattlich, mit einem selbstbewussten Lächeln und funkelnden Augen ließ er die Herzen der Dorfschönheiten stillstehen. Die Mädchen schrieben ihm heimlich Liebesbriefe, verweilten lange am Brunnen, in der Hoffnung, ihm zu begegnen, und backten sogar Kuchen, nur um irgendwie seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch, wie es im Leben oft der Fall ist, war die Liebe nicht nur blind, sondern auch hinterlistig ungerecht.

Franz wählte nicht die, von der alle Dorfburschen träumten. Seine Auserwählte war Maria, die Tochter des Ölmüllerbesitzers. Klein, mit einem einfachen Aussehen, ohne besondere Redekunst oder Eleganz, rief sie bei den Rivalinnen nur ein leises Murren hervor.

– Was hat er nur in ihr gefunden? – flüsterte man auf dem Markt.

–Das ist doch alles Kalkül, – behauptete eine der abgewiesenen Schönheiten selbstbewusst.

Adolf Schmidt und seine Frau waren mit dieser Wahl völlig einverstanden. Der Vater sprach philosophisch:

– Warum den Wohlstand auf dem Dornenweg suchen, wenn man ihn, wie auf Butter, direkt zum Ziel erreichen kann?

Spät im Frühjahr heirateten Franz und Maria. Die Kirche war voll, aber anstatt von Segenswünschen und Gebeten flüsterte die Menge leise:

– Wie wird sie nur an seine Lippen kommen? Hat sie eine Hocker mitgebracht?

– Oder einen Kochtopf! Sie wird ihn auf den Kopf setzen und sich hochziehen…

Die Hochzeit fand unter den gehässigen Kommentaren statt, und das Glück der frisch Vermählten war nur von kurzer Dauer. Der Krieg, wie ein grausamer Wind, riss Franz aus dem Leben. Er galt als vermisst, und die Nachricht über seinen Tod zerbrach die Familie.

Maria, die zwanzigjährige Witwe, war allein im neuen Haus, auf fremdem Land. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte: den Ehemann betrauern, den sie kaum gekannt hatte, oder versuchen, weiterzumachen. Nur die beharrlichen Bitten ihrer Schwiegermutter drängten sie, ein Trauerkleid anzulegen. Erst dann brach Maria in Tränen aus, doch nicht für Franz – ihre Tränen waren für sich selbst, für das Leben, das erneut ihre Hoffnungen enttäuscht hatte.

Marias Eltern, die vor Verfolgung flüchteten, waren nach Amerika ausgewandert und hatten sie allein zurückgelassen. Als das Jahr der Trauer fast um war, traf der alte Adolf eine Entscheidung:

– Du wirst Nikolaus heiraten.

Der jüngere Sohn, der am Tisch saß, verschluckte sich fast vor Überraschung. Die Mutter, die die Gewohnheiten ihres Mannes kannte, klopfte nur beruhigend dem Sohn auf den Rücken. Maria atmete erleichtert auf und eilte in ihr Zimmer, um das Trauerkleid abzulegen.

Hinter der geschlossenen Tür hörte sie, wie ihr Schwiegervater und Nikolaus stritten. Die Worte gingen im Rauschen der Männerstimmen verloren, aber sie konnte sich nicht dafür interessieren. Das Wichtigste war, dass nun Hoffnung und Licht aufgetaucht waren. Nikolaus, der noch keine Verlobte hatte, fühlte, dass ihm etwas Wichtiges genommen worden war. Dieses Gefühl, wie ein kleiner Splitter, würde ihn für immer begleiten.

Maria, zufrieden mit ihrer Zukunft, hatte bereits die alte Näherin Emma Leis ins Haus eingeladen. Das Hochzeitskleid aus der ersten Ehe musste umgenäht werden – das Leben gab ihr eine zweite Chance, und sie war entschlossen, diese nicht zu verpassen.

Unbeliebt, ungesellig und ungebildet – Maria, zu jedermanns Überraschung, gebar zwei Jahre nach ihrer zweiten Heirat einen Sohn. Nikolaus, der versuchte, die Nähe zu seiner Frau zu vermeiden, war erschüttert. Denn es schien, als hätten die einzigen Nächte, die sie miteinander verbrachten, immer nur dann stattgefunden, wenn er betrunken nach Hause kam.

Aber als er das erste Mal seinen winzigen Erben in den Armen hielt, durchzuckte ihn ein angenehmes Prickeln im Herzen, und in seiner Seele breitete sich ein warmes, ungewohntes Gefühl aus. In diesem Moment vergab Nikolaus nicht nur seinem Vater für seinen ehelichen Despotismus, sondern empfand sogar Dankbarkeit. Denn in seinen Händen pochte jetzt ein kleines Herz, ein Teil von ihm selbst.

Von diesem Tag an wusste Nikolaus, dass er bis zu seinem letzten Atemzug für dieses Kind leben, es beschützen und lieben würde. Er wählte für seinen Sohn den Namen David, einen alten Namen, der sowohl bei den Griechen als auch bei den Juden dasselbe bedeutet: „der Geliebte“.

Maria jedoch schien nichts für das Kind zu empfinden. Die schweren Geburten hatten all ihre Kräfte aufgebraucht und ließen an ihrer Stelle nur bittere Müdigkeit zurück. Und auch David erinnerte sie an den Mann, der nie mit Liebe auf sie geschaut hatte.

Nikolaus war seinem Bruder Franz in gewisser Weise ähnlich, doch Maria bemerkte sofort den Unterschied. Franz, wenn auch nur kurz, hatte ihr in die Augen geschaut, ihre Hände geküsst, ihr sanft die Wange gestreichelt. Nikolaus hingegen war ganz anders. Die Söhne von Adolf Schmidt schienen die Rollen unter sich geteilt zu haben: Wenn Franz zärtlich mit seiner Frau umging, so schenkte Nikolaus all seine Liebe nun nur dem kleinen David.

Und diese Liebe, die sie nie erfahren hatte, erfüllte Marias Herz mit bitterem, wahnsinnigem Neid. Jede seiner Berührungen des Sohnes, jeder Blick, der von väterlicher Zärtlichkeit erfüllte, erinnerte sie schmerzlich an ihre eigene Unwichtigkeit und daran, dass ihre Existenz für ihren Mann nur die unausweichliche Folge des Willens eines anderen war.

***

In jungen Jahren, als David erst zwei Jahre alt war, ergriff er eines Tages, als würde er seinem erblichen Drang zum Handwerk folgen, einen kleinen Hammer in der Schmiede. Mit seinen prallen kleinen Händen umfasste er den Griff fest und, vor Freude schreiend, begann er auf einen Metallstab zu schlagen.

– Hau rein, Davidchen! Schlag, Daviduschka! – rief Nikolaus laut, strahlend vor Stolz. Seine Stimme hallte so weit, dass es schien, als könnten sie auf der anderen Seite der Wolga gehört werden. – Möge jeder Schmidt in seinem Grab die Kraft des heranwachsenden Schmieds spüren!

Mit zehn Jahren hob sich David bereits von seinen Altersgenossen ab. Als Sohn des Schmieds war er, wie sein Vater, breit gebaut und stark, was zusammen mit seinem rosigen Gesicht ihn wie einen lebenden quadratischen Lebkuchen erscheinen ließ. Selbst seine Hände waren rechteckig und fest, wie der Kopf eines Hammers.

Die Jungen aus der Nachbarschaft liebten es, ihre Zeit mit David zu verbringen. Er war gerecht, ohne Arroganz, mit einem guten Charakter. Seine Freunde schätzten nicht nur seinen fröhlichen Wesen, sondern auch, dass er immer bereit war, sie zu beschützen: Sei es vor einer Meute böser Hunde oder vor Jugendlichen aus der Nachbarstraße, die versuchten, in den Kinderschlachten die Oberhand zu gewinnen.

Das Einzige, womit David nicht prahlen konnte, war seine Größe.

– Das hast du von deiner Mutter, – sagte Nikolaus mit einem leichten Vorwurf, wenn er bemerkte, wie sein Sohn sich vergeblich nach oben streckte, in dem vergeblichen Versuch, mit seinen größeren Altersgenossen mitzuhalten. –Bei den Schmidts waren die Männer immer groß. Dein Onkel Franz zum Beispiel war mindestens einen Kopf größer als jeder andere im Dorf.

David lauschte seinem Vater mit angehaltenem Atem. Es war das erste Mal, dass er erfuhr, dass er einen Onkel gehabt hatte. Der im Krieg gefallene Franz verwandelte sich für den Jungen plötzlich in einen unsichtbaren Helden, dessen Bild David noch lange zu neuen Taten inspirieren sollte.

Der heranwachsende David erfreute Nikolaus, füllte sein Leben mit hellen Momenten. Der Junge wuchs kräftig, klug und fleißig heran und schien all die besten Eigenschaften zu verkörpern, die der Schmied hoffte, an seinen Nachkommen weiterzugeben. Doch die Freude an der Vaterschaft konnte das Leere nicht ausfüllen, die wie ein dunkler Schatten Nikolaus umhüllte, wenn der Tag zu Ende ging.

Wenn David sich bei Sonnenuntergang in seinem Bett gemütlich einrollte und in die Welt der Kindheitsträume abtauchte, blieb sein Vater allein. Das Haus, in dem einst die Stimmen einer großen Familie hallten, war nun still und düster. Der Sohn konnte nicht das ersetzen, was das Leben eines erwachsenen Mannes verlangte. Die Sehnsucht nach Verständnis, Wärme und der Last des Tages, die mit jemandem nahe teilen wollte, wurde schmerzhaft.

Nikolaus musste wählen: zu Maria ins Bett gehen, mit der er nie wirkliche Nähe gefunden hatte, oder sich in seiner geliebten Schmiede mit seiner Einsamkeit zu verstecken. Fast immer wählte er Letzteres. Die Schmiede war für ihn ein Zufluchtsort, ein Ort, an dem er sich verlieren konnte. Aber gerade dort, zwischen dem Geruch von Metall und Kohle, lauerte eine Gefahr, die langsam, aber unaufhaltsam sein Leben untergrub.

Die Dorfbewohner bezahlten oft für seine Arbeit mit Flaschen Schnaps oder selbstgebrautem Wein. Anfangs nahm Nikolaus das als eine unvermeidliche Eigenheit des Dorflebens hin. Doch mit der Zeit fand er im Alkohol ein seltsames Trost. Ein oder zwei Schlücke halfen, den Schmerz zu dämpfen und das erdrückende Gefühl der Leere zu mildern. Im Laufe der Zeit wurde das Trinken sein ständiger Begleiter und die Schmiede der Ort, an dem er nicht nur arbeitete, sondern auch vor der Realität fliehen konnte.

Nikolaus bemerkte nicht, wie die Sucht Besitz von ihm ergriff. Allmählich verdrängte der Alkohol alles andere aus seinem Leben. Er fand immer seltener die Kraft, zu arbeiten, und versank immer mehr in düsteren Gedanken. David blieb der einzige Lichtblick in seiner Welt, aber selbst die Liebe zu seinem Sohn konnte ihm nicht die einstige Stärke zurückgeben.

Und eines Morgens kamen die Nachbarn in die Schmiede. Dort, zwischen den Metallrohlingen, im Schatten des abgekühlten Ambosses, fanden sie den Schmied. Nikolaus lag auf dem Erdboden, reglos, als wäre er in ewiger Stille erstarrt. Sein Gesicht, rau, aber friedlich, schien endlich von der Last der vergangenen Jahre befreit.

Das Schicksal hatte ihm nie gestattet, zu sehen, zu welchem Mann sein Sohn heranwachsen würde, welchen Lebensweg David einschlagen würde. Alles, was von Nikolaus übrig blieb, war sein Handwerk, die Liebe, die er in den Jungen gesteckt hatte, und der unbezwingbare Wunsch, dass zumindest sein Kind ein anderes Leben führen sollte als er selbst.

Aber auf dem Land kam man nicht ohne Schmiede aus. Das wussten alle, auch die lokalen Bolschewiki, die zögerten nicht, einen anderen Spezialisten aus dem benachbarten Kanton einzuladen. Ein Kanton war damals eine administrative Einheit der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, etwas wie ein Bezirk, aber mit größeren Befugnissen. In jedem Kanton gab es Handwerks- und Landwirtschaftszentren, von denen man schnell den benötigten Meister finden konnte…

Mit dem Erscheinen von Detlef Meyer im Haus der Schmidts änderte sich Davids Leben. Der neue Schmied, ein großer, kräftiger Witwer um die vierzig, kam mit seinen drei Söhnen ins Dorf und gewann schnell Maries Zuneigung. Im Gegensatz zu Nikolaus war er herrisch, grob und duldete keinen Erfolg von anderen.

Maria schien lebendig zu werden, sobald sie Detlef sah. Sie vergaß schnell ihren verstorbenen Mann, und das Trauerkleid blieb unberührt im Schrank. Detlef eroberte nicht nur ihr Herz, sondern zog bald auch ins Haus, als wäre er immer schon dort gewesen. Für David jedoch begann eine schwere Prüfung.

Der Stiefvater mochte seinen Stiefsohn von Anfang an nicht. Detlef betrachtete ihn als Konkurrenten in der Schmiede. Ihm missfiel die Neigung des Jugendlichen zum Handwerk, seine Geschicklichkeit und sein Können, die David von den anderen Kindern abhoben. Selbst die Nachbarn bemerkten, dass der Junge fast mit einem Hammer in der Hand geboren worden war.

Eines Tages betrat ein Nachbar, ein Fischer, die Schmiede, in der Hand eine verrostete Kette:

– David, mach die Riegel fester, damit das Boot hält, – bat er, ohne Detlef überhaupt anzusehen.

Dieser Vorfall wurde zum letzten Tropfen. Als Detlef am Abend aus der Wirtschaft zurückkam, roch er nach Alkohol, und in seinen Augen flackerte ein wütendes Feuer.

– Du Miststück! Ich rackere mich ab, um dich zu ernähren, und du raubst mir den Verdienst?! – dröhnte er, als er ins Haus stürmte.

David, der am Tisch auf das Abendessen wartete, stand auf und ballte die Fäuste.

– Das ist unser Haus, nicht deins. Verzieh dich!

Diese Worte brachten Detlef in Wut. Er griff nach der Peitsche an der Wand und schwang sie. Doch David schaffte es, die Peitsche zu ergreifen und riss sie so heftig, dass Detlef das Gleichgewicht verlor, zu Boden fiel und sich schmerzhaft stieß. Als er den Kopf hob, waren seine Nüstern mit Blut überzogen und sein Gesicht war vor Wut rot.

– Ich bring dich um, – zischte er, als er sich aufrichtete.

In diesem Moment stürzten Davids Stiefbrüder von hinten auf ihn. Sie warfen ihn zu Boden, schlugen ihm ins Gesicht und traten ihm in den Bauch. David wehrte sich so gut er konnte, aber die Kräfte waren ungleich. Irgendwann gelang es ihm, sich zu befreien. Er rannte aus dem Haus, sein zerrissenes Hemd wehte im Wind wie ein Fetzen einer Fahne.

Hinter ihm fiel mit einem Krachen die Tür zu und riss das Hufeisen ab, das immer als Symbol des Glücks galt. David rannte weiter, ohne sich umzusehen. Tränen und Zorn vermischten sich in seiner Seele. Er verstand: Dieses Haus war nicht mehr seins. Vor ihm lag die Dunkelheit der Nacht, der kalte Wind und die Ungewissheit, in der er seinen Platz suchen musste.

David streifte um das Haus, seine kalten Hände unter den Achseln vergraben. Er wollte glauben, dass gleich die Tür aufging und seine Mutter, sein einziger naher Mensch, ihn zurückrufen würde. Doch stattdessen flackerte hinter dem Vorhang Detlefs finsteres Gesicht auf, der mit der Faust drohte, als wolle er versprechen, dass es das nächste Mal keine Gnade geben würde.

Gegen Mitternacht knarrte die Tür schließlich. David erstarrte, doch statt tröstender Worte sah er, wie seine Mutter vorsichtig seinen alten Mantel, die irgendwo im Streit verlorene Kappe und ein Bündel mit Brotgeruch auf der Veranda liegen ließ.

– Du bist stark, wie alle Schmidts, – flüsterte sie, während sie in den Schatten stand. Schnell kreuzte sie Davids Sohn und verschwand hinter der Tür, als hätte sie Angst, ertappt zu werden.

David hob die Sachen schweigend auf. Tränen traten ihm in die Augen, aber er sagte kein Wort. Alles war klar. Seine Mutter hatte sich entschieden: nicht für ihn, sondern für den Stiefvater.

Mit elf Jahren stand er nun auf der Straße. Das Dorf, das einst von zahlreichen Verwandten bewohnt war, war nun leer für ihn. Einige, wie Großmutter und Großvater, waren während des Ersten Weltkriegs nach Übersee gegangen, andere waren an Hunger gestorben oder in den Städten verschwunden.

Diese Nacht verbrachte David, vergraben im warmen Heu auf dem Heuboden des Fischers, wegen dem alles angefangen hatte. Der Fischer wusste nicht, dass der Junge sich in seiner Scheune versteckt hatte. Die kalte Luft brannte auf seinen Wangen, und das schwache Mondlicht drang durch die Ritzen der Bretter. David hielt das Bündel mit Brot in der Hand, das nun sein einziges Hab und Gut war.

Am Morgen, hungrig und durchfroren, machte er sich auf, durch das Dorf zu streifen. Die Gespräche der Erwachsenen auf der Straße gaben ihm einen Hinweis. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wolga, sagten sie, wurde ein Sowchose mit dem klangvollen Namen „Kusnez des Sozialismus“ gegründet. Dorthin fuhren Komsomolzen aus dem ganzen Land.

David verstand nicht, was die Worte „Sowchose“ oder „Komsomolzen“ bedeuteten, und vom Sozialismus hatte er noch nie gehört. Aber das Wort „Kusnez“(Schmied) ergriff ihn, als öffnete sich ein Fenster zu einem neuen Leben. Es fühlte sich wie ein Zeichen des Schicksals an.

– Dorthin muss ich, – entschied er.

Doch es gab ein Problem: der Fluss. Die Wolga, kalt und majestätisch, glänzte in der Sonne, und die Überquerung schien eine schwierige Aufgabe zu sein. Die Boote, die gewöhnlich zwischen den Ufern hin und her fuhren, waren zu dieser Zeit nicht zu sehen.

– Aber wie soll ich hinüberkommen? – dachte er nach, während er in das tosende Wasser starrte. In seinen Augen brannte bereits das Feuer der Entschlossenheit. David spürte, dass er hier nicht bleiben konnte, aber was ihn dort, jenseits des Flusses, erwarten würde, konnte nur der erfahren, der den ersten Schritt wagte.

In dieser Nacht war der Himmel schwarz wie Teer, keine einzige Sterne. Dunkelheit hatte das Dorf wie eine schwere Decke bedeckt. David ging entlang des Ufers, stolperte über Steine und presste das Taschenmesser seines Vaters, das letzte Zeichen von Schutz und Stärke, fest in der Hand.

Er fand das Fischerboot im Dunkeln, indem er das Leinenseil ertastete, an dem es festgebunden war. David erkannte es sofort: Einst hatte er selbst das Seil repariert, und nun hielt das Boot nur noch durch das Seil, weil die Metallringe beschädigt waren. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es dasselbe Boot war, schnitt er das Seil wortlos mit der scharfen Klinge durch. Seine kräftigen, an die Arbeit gewohnten Hände bewegten sich sicher, auch wenn sein Herz so laut schlug, dass es schien, man könne es vom anderen Ufer hören.

Er versuchte, seine Schuhe nicht nass zu machen, stieß das Boot vom Ufer und sprang hinein, landete auf einer Holzbank. Die Ruder hatte er im Voraus genommen – er hatte sie von der Wand der Scheune genommen, schon ahnend, dass ihn eine lange Reise erwartete.

Er hatte noch nie zuvor gerudert, aber es gab keine andere Wahl. Das Boot drehte sich langsam, und David, der aus dem Rhythmus kam, begann zu rudern. Die Ruder quietschten, das Wasser plätscherte gegen den Rumpf, und das kleine Boot schwankte unbeholfen auf den Wellen. Je weiter er sich vom Ufer entfernte, desto stärker wuchs das Gefühl der Angst.

Die nasse Dunkelheit des Wassers schien lebendig, schwer und feindlich. Das Boot sah aus wie ein kleines Stück Holz auf der Oberfläche dieses Abgrunds. Die Wellen atmeten leise, manchmal platschten sie laut, als wollten sie den Jungen packen und mit sich reißen. Klebriger Angst setzte sich auf seine Schultern und lähmte seine Bewegungen. Doch David ruderte hartnäckig weiter, versuchte, gerade zu bleiben.

Für einen Moment brach der Mond aus den Wolken. Sein Licht erleuchtete das Ufer, das immer kleiner wurde und in der Ferne verschwand. David stoppte und sah zurück. Er konnte die vertrauten Umrisse des Dorfes noch erkennen – den Ort, an dem er geboren wurde, wo es einmal ein Zuhause, eine Familie, einen Vater gab. Doch nun war alles hinter ihm geblieben. Als ob es nie gewesen wäre. Der Ort, an dem man ihn fortjagte, konnte nicht mehr als Heimat bezeichnet werden.

Die Landzunge verschwand, vom Dunkel verschlungen. David griff wieder nach den Ruderblättern, aber das letzte Bild hallte in seinem Kopf wider: die rauchigen Dächer der Häuser, der Fluss, der entlang des Dorfes zog, und die leuchtenden Fenster, hinter denen Familien zum Abendessen saßen. Fremde Familien.

Die Dunkelheit war absolut, doch die Geräusche über dem Fluss füllten den Raum mit Leben. Manchmal ertönte ein scharfer Spritzer – es waren die Fische, die mit ihren Schwänzen gegen das Wasser schlugen, als wollten sie den Fremden auf die Probe stellen. Irgendwo hoch am Himmel schrien Zugvögel, und aus der Ferne hallte der hohle Ruf eines Uhus, der sich im Wald versteckt hatte. Jedes Geräusch ließ David zusammenzucken, doch zugleich beruhigte es ihn. Er spürte, dass er in dieser Leere nicht allein war.

– Ich bin nicht allein, – wiederholte er sich. –Wenn sie leben, dann schaffe ich es auch.

Es wurde immer schwerer zu rudern. Seine Hände schmerzten vor Erschöpfung, die Kälte kroch unter die dünne Kleidung. Doch David blickte nach vorne, dorthin, wo ihn das Unbekannte erwartete. Es ängstigte ihn, aber zugleich lockte es ihn. Es gab etwas Neues darin, etwas Eigenes, etwas, für das es sich lohnte, weiterzugehen.

Рис.1 Amalien Jahrhundert

Je näher das Boot dem anderen Ufer kam, desto stärker nahmen die Gerüche zu: feuchte Luft brachte eine schwere Mischung aus Schlamm, verfaultem Fisch und morschem Holz mit sich. Diese Aromen umhüllten den Jungen und erinnerten ihn an die Nähe des Landes und daran, dass er kurz davor war, seine erste Reise ins Unbekannte zu beenden.

David ruderte hartnäckig weiter, seine kleinen, aber schon starken Hände bewegten sich mechanisch im gleichen Rhythmus. Die Muskeln schmerzten, der Rücken tat weh, und die Finger schienen an das Holz der Ruder zu gewachsen. Schließlich blieb das Boot plötzlich stehen und stieß mit einem dumpfen Geräusch auf den Sandstrand. Dieses Geräusch hallte laut in Davids Ohren wider. Er atmete erleichtert aus und ließ die Hände sinken. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, wie sich blutige Streifen von den Kratzern, die die grobe Oberfläche der Ruder hinterlassen hatte, auf seinen Handflächen bildeten.

Keuchend stieg er aus dem Boot. Die müden Beine versanken im weichen Sand, und der Körper schwankte, als fühle er immer noch das Schaukeln auf den Wellen. David hielt für einen Moment inne, um sich umzusehen. Der Himmel erhellte sich leicht – durch die Wolken tauchte eine schmale Mondsichel auf, die das Ufer in blassem, fast gespenstischem Licht erstrahlen ließ. In der Ferne dunkelten dichte Sträucher. Sie schienen unerreichbar, aber gleichzeitig lockten sie den Jungen, versprachen Schutz.

Mit den letzten Kräften machte sich David auf den Weg, hinterließ tiefe Spuren im feuchten Sand. Sein Atem war schnell und keuchend, und jeder Schritt fiel ihm schwer. Endlich erreichte er die Sträucher und blieb stehen. Die Zweige peitschten ihm ins Gesicht, verfingen sich in seiner Kleidung, aber der Junge achtete nicht darauf. Er fiel einfach auf die Knie und dann erschöpft zur Seite.

Mit rauen Händen sammelte er ein Bündel abgefallener Blätter unter seinem Kopf. David hatte kaum Zeit, sich bequemer hinzulegen, als die Erschöpfung, die sich über die lange Nacht angesammelt hatte, endgültig siegte. Die Welt um ihn verblasste, das Rauschen des Windes in den Ästen vermischte sich mit seinem leisen, gleichmäßigen Atem. So, in der kühlen Nacht, den Gerüchen von Wasser und Erde, fühlte sich der Junge zum ersten Mal wirklich einsam.

David wachte auf, als ein lauter, zerrissener Schrei über den Fluss hallte. Es war schon dämmerig, und der graue Morgennebel wirbelte und verhüllte das ferne Ufer. Durch diese milchige Decke konnte er die dunkle Silhouette einer langsam treibenden Barke erkennen. Auf ihr sang ein Mann laut und schräg, den Kopf nach hinten geworfen. Selbst aus der Ferne war klar, dass der Sänger ziemlich betrunken war – seine Stimme brach immer wieder und hallte dumpf über das Wasser.

Der Junge fröstelte und zog die Schultern zusammen. Die feuchte Kleidung klebte an seinem Körper, und der eisige Morgentau durchtränkte ihn bis auf die Haut. David stand auf, dehnte mühsam seine steifen Glieder, die vom Kälte und Schlaf taub waren, und machte sich auf den Weg in den Dickicht. Das Knacken der Zweige unter seinen Füßen war in der Stille lauter als gewöhnlich, nur unterbrochen vom fernen Plätschern des Wassers.

Durch das dichte Gebüsch hindurch trat er auf offenes Gelände und sah sofort eine ungewöhnliche Szene vor sich: In der Nähe erstreckte sich ein neuer Siedlungsplatz. Die Holzhäuser rochen noch nach frisch geschnittenem Holz.

Doch am meisten zog das große Gebäude Davids Aufmerksamkeit auf sich, das mit leuchtend roten Fahnen und Plakaten geschmückt war, deren große Buchstaben er nicht lesen konnte. David sprach kein Russisch, aber er spürte, dass diese Schilder etwas Wichtiges bedeuteten. Die Plakate waren auffällig und schienen von großer Bedeutung, und das Gebäude sah aus wie ein Ort, an dem Entscheidungen getroffen wurden.

David trat schweigend näher. In seinem Kopf vermischten sich Sorgen mit Aufregung. Er dachte, dass dieser Ort wahrscheinlich eine Art Verwaltung oder Versammlungsort wichtiger Leute war. Doch als er die Holzgriff-Tür zog, gab sie nicht nach. Das Schloss hielt die Tür an ihrem Platz, und um ihn herum war niemand zu sehen.

Fühlend, wie ihm die Kälte durch die dünne Kleidung kroch, richtete David den Kragen seines alten Mantels, um sich etwas gegen die kalte Morgenluft zu schützen, und zog die Mütze bis über die Ohren. Er setzte sich auf die Veranda, durchwühlte das Bündel, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und zog das Brot hervor. Es war hart, doch hungrig dachte David nicht lange nach. Er biss einen großen Brocken ab und kaute gierig, während er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten.

Sitzend auf der Veranda, beobachtete der Junge das langsam erwachende Dorf. Die Menschen begannen, aus den Häusern zu kommen, Arbeiter sprachen laut miteinander, und in der Ferne knackten die Räder eines Wagens. David wusste, dass jetzt das Schwierigste begann – diese Leute davon zu überzeugen, dass auch er hier seinen Platz hatte.

Als Erste kam eine Frau mit einem roten Kopftuch, einem blauen Overall, aus dessen Ärmeln die Ränder eines gestrickten Pullovers hervorblitzten, und mit Stiefeln aus Bast.

– Was machst du hier? – fragte sie, während sie den Jungen von Kopf bis Fuß musterte.

David warf ihr schweigend einen Blick zu und kaute weiter an dem Brot. Er hatte keine Lust zu antworten. Und das nicht nur, weil er fast kein Russisch sprach. In seiner Vorstellung war es sinnlos, mit einer Frau zu reden, die offensichtlich nicht die Hauptperson im Haus war – und überhaupt in nichts.

– Hast du deine Zunge verschluckt? – fragte die Fremde erneut, jetzt mit unzufriedener Stimme, während sie die Hüfte in die Seite stemmte.

David schwieg wieder, aber aus dem Augenwinkel beobachtete er sie.

– Hast du nicht gelernt zu grüßen? – fragte die Frau weiterhin.

Diesmal hatte David für einen Moment den Drang, zu verstehen, was sie sagte. Ihre Stimme klang unerwartet lebendig, nachdrücklich, anders als das leere Gerede der Dorffrauen, die er kannte.

Doch die Fremde, ohne eine Antwort abzuwarten, seufzte genervt, öffnete das Schloss und verschwand hinter der Tür.

Kurz darauf strömten immer mehr Leute in das Gebäude. Schon etwa zehn Menschen waren an David vorbeigegangen, als er sich entschloss, aufzustehen und ebenfalls hineinzugehen.

– Guten Morgen! – sagte er schüchtern auf Deutsch, da er keine andere Sprache kannte, während er den Raum betrachtete. Was er sah, überraschte ihn: Die gleiche Frau im roten Kopftuch saß hinter einem massiven Eichentisch, der mit Papieren bedeckt war, und alle anderen standen vor ihr.

Auf seine Worte reagierte niemand. David sammelte sich und wiederholte lauter:

– Guten Morgen!

Die Leute im Raum drehten sich erstaunt zu ihm um.

– Ach, du hast doch eine Zunge? – lachte die Frau hinter dem Tisch.

David verstand ihre Worte nicht, aber er ahnte, dass sie ihn meinte. Zu seiner Überraschung erkannte er, dass diese Frau die wichtigste Person im Raum war.

– Ich heiße David –, sagte er.

–Was machst du hier? – fragte jemand hinter ihm auf Deutsch.

Er drehte sich abrupt um und sah einen großen, lockigen Mann, der eine zusammengerollte Zeitung in der Hand hielt. Ein Gefühl der Freude ergriff den Jungen – endlich sprach jemand seine Sprache.

– Ich will arbeiten, – sagte David, nervös seine Mütze drehend.

– In welchem Sinne arbeiten? – fragte der Mann, trat in den Raum und gab jedem die Hand, dabei einen Blick auf den Jungen werfend.

– Ich suche Arbeit, – fügte David hinzu.

– Und wie alt bist du?

– Fünfzehn, – antwortete er und schummelte ein paar Jahre dazu.

– Du bist fünfzehn?! – fragte der Mann auf Russisch und blinzelte.

– Und siehst aus wie zehn, – mischte sich die Frau im Overall ein. An ihrem Tonfall und der Aufmerksamkeit, mit der sie Davids Deutsch beobachtete, war deutlich zu merken, dass sie zumindest einen Teil von dem verstand, was er sagte, auch wenn vielleicht nicht alles.

David zuckte mit den Schultern und verstand, dass seine Worte Zweifel aufwarfen.

– Frag ihn, Anton, was er von uns will, – befahl die Frau.

– Er sagt, er sucht Arbeit, Genossin Leiterin, – antwortete der Mann und wandte sich an sie.

– Jetzt fehlt uns nur noch ein Kind hier, – lachte jemand.

– Ich bin Schmied, – sagte David entschlossen und selbstbewusst. – Kusnez!

Die Frau betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und schien sich den Jungen mit einem Hammer vorzustellen, was sie schmunzeln ließ:

– Schmiede brauchen wir, klar, aber größer und älter sollten sie schon sein.

Anton übersetzte die Worte der Chefin, aber David war nicht bereit aufzugeben.

– Nehmt mich wenigstens als irgendetwas! Ich kann jede Arbeit machen!

– Wo soll ich dich denn nehmen? Als Traktorfahrer? Du bist doch kaum größer als die vorderen Räder eines Traktors, und auf dem Sitz muss man dich noch hochheben!

– Ich bin stark! Meine Hände sind so! – er hob die Hände und drängte weiter. – Bitte! Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, ich bin ein Waisenkind!

Anton übersetzte schnell.

– Du sprichst noch nicht einmal Russisch. Wie sollen wir kommunizieren? Mit Gesten vielleicht?, – seufzte die Frau und vertiefte sich wieder in ihre Papiere.

– Lass ihn in Ruhe, Junge, geh deinen Weg, – sagte Anton, schob ihn sanft zum Ausgang.

David trat auf die Veranda und senkte den Kopf. Anton folgte ihm.

–Es wäre besser, wenn du bei deinen Leuten bleibst, – sagte er. – Such dir Arbeit in den deutschen Siedlungen.“

– Da braucht mich sicher niemand, – antwortete David düster und wandte sich der Wolga zu.

***

Den ganzen Tag wanderte er am Ufer entlang und hoffte, sein Boot zu finden, das offenbar vom Strom mitgerissen worden war.

– Dummkopf, ich hätte es festbinden oder weiter aus dem Wasser ziehen sollen, – schimpfte der Junge mit sich selbst.

 Und obwohl es ihm Angst machte, ins Heimatdorf zurückzukehren – die Überquerung der breiten Wolga und der unvermeidliche Zorn des Nachbarn, dessen Boot er ohne Erlaubnis genommen hatte, erschreckten ihn –, schien David keinen anderen Ausweg zu sehen. Die Leiterin hatte recht: Ohne Russischkenntnisse hatte er im Staatsgut nichts zu suchen. Aber wie sollte er die Sprache lernen, wenn er unter den Deutschen lebte?

Nachdem er das verbliebene Brot gegessen und ein paar Handvoll angefrorenen Schlehen gepflückt hatte, kroch David noch vor Sonnenuntergang in einen der Heuhaufen, die das Feld zwischen der Wolga und der Siedlung bedeckten, und schlief sofort ein.

Am frühen Morgen des nächsten Tages saß er wieder auf den Stufen des Verwaltungshauptsitzes des Staatsgutes, diesmal ohne Frühstück. Wie am Tag zuvor kam als Erste die bereits bekannte Frau mit dem roten Kopftuch und öffnete die Tür.

– Bist du schon wieder hier? – fragte sie überrascht und breitete die Arme aus.

 Ohne ein Wort zu sagen, sah David sie an, ohne den Blick abzuwenden.

Bald versammelte sich die gesamte Leitung des Staatsgutes im Gebäude. David wartete geduldig auf den Erscheinen des lockigen Mannes und folgte ihm, als dieser auftauchte.

– Guten Morgen! – rief der Junge laut und nahm seine Mütze ab.

– Erklär ihm doch mal, – wandte sich die Leiterin an den unfreiwilligen Übersetzer Anton, – wir haben keine Arbeit für ihn. Er ist noch zu jung.

Gerade wollte Anton ihre Worte übersetzen, als David mit zitternder Stimme dazwischenfuhr:

– Ich werde ja wachsen. Ich werde alles lernen. Ich kann ein Pferd beschlagen, Äxte und Sicheln schärfen! Glaubt ihr wirklich, ich kann mich nicht in eurem Traktor auskennen?

Anton seufzte schwer und übersetzte die Worte des Jungen.

In dem Raum herrschte eine angespannte Stille. Anscheinend überlegte jeder, was er mit diesem hartnäckigen und verzweifelten Jugendlichen anfangen sollte.

– Nina Petrowna, was halten Sie davon, es zu versuchen?, – wandte sich Anton plötzlich an die Leiterin. –Vielleicht wird der Junge doch noch nützlich? Wir können ihn doch nicht den ganzen Winter draußen lassen. Unser Staatsgut wurde schließlich gerade für Waisenkinder geschaffen. Wegen seiner kleinen Größe und weil er kein Russisch spricht, nehmen wir ihn nicht?

Die Leiterin schaute in Davids Richtung, dann blickte sie zu den anderen Anwesenden. Sie hielt ihren Blick auf Anton, dann sagte sie düster:

– Du weißt doch, dass wir nur volljährige Kinder nehmen, die die Schule abgeschlossen haben.

– Was sollen wir tun? Wo sollen wir ihn hinschicken? In der Nähe gibt es kein Heim für Kinder“, antwortete Anton und legte überzeugend seinen Arm um Davids Schultern. „Ein Jahr geht schnell vorbei, das merkt niemand. Die Jungs im Gemeinschaftswohnheim werden sich zusammenrücken, und ich helfe ihm mit Russisch.

– Hast du überhaupt die Schule besucht? – fragte Nina Petrowna, während sie Formulare aus dem Schreibtisch zog.

– Nein, – gab David ehrlich zu.

– Gut, du wirst also im Gemeinschaftswohnheim wohnen, in der Kantine essen, – übersetzte Anton fröhlich die Worte der Chefin. – Vier Tage Arbeit auf dem Feld und in der Werkstatt, zwei Tage Traktorführerkurse. Sonntags gibt’s Allgemeinbildung. Erholen wirst du dich, tut mir leid, nicht können.

– Was für Arbeit soll es jetzt auf dem Feld geben? – wunderte sich der Junge. – Die Ernte ist doch schon eingebracht, bald wird es auch Schnee geben.

– Hast du schon von Wintergetreide und Schneeverwehungen gehört? – Die Frau lächelte leicht, als sie ihn ansah. Sie begann, ihn zu mögen. – Du gehst ins Lager, da bekommst du Walenki (Filzstiefel) und Watnik (gepolsterte Arbeitsjacke). Sag einfach, ‚Deine Mutter‘ hat es so angeordnet. Sie werden dich verstehen. Wie soll ich dich nennen, Zwerg?

– David, – stellte sich der Junge vor, und ihm kamen Tränen in die Augen. Aber es waren Tränen des Glücks. Das Staatsgut hatte ihn in seine Familie aufgenommen…

***

Hier war alles anders – neu, fremd und unbekannt. Die Siedlung erinnerte an ein kleines Universum mitten in den endlosen Steppen: drei lange Baracken für Wohnzwecke, eine Kantine, ein Verwaltungsgebäude, eine mechanisierte Werkstatt, ein Klub, ein Badhaus, ein Genossenschaftsladen und mehrere Lagerhäuser. Etwas abseits, wie in versteckten Ecken, waren der Kuhstall und der Schweinestall zu sehen.

Man erzählte, dass die Idee zur Gründung dieses Staatsgutes persönlich von Genosse Stalin stammte. Der Legende nach begann alles mit seinem Besuch in Kuban, im kürzlich eröffneten Waisenhaus. Damals beklagte sich der Direktor der Einrichtung:

– Die Kinder hier, Josef Wissarionowitsch, haben nichts zu wünschen, sie sind versorgt. Aber wohin sollen sie nach der Schule gehen – das ist das wahre Problem. Viele geraten wieder auf die Straße, werden zu Gaunern, Dieben oder sogar Banditen.

Stalin dachte nach, fuhr mit den Fingern an seiner Pfeife und sagte:

– Wir müssen unbedingt einen Weg finden… dieses junge Volk in die richtigen Bahnen zu lenken.

– Aber wie, Genosse Stalin? Sie zerstreuen sich nach dem Verlassen des Waisenhauses wie Herbstblätter im Wind. Es ist unmöglich, sie zu überwachen…

Nach diesem Gespräch begann auf der linken Seite der Wolga die Arbeit. Genau zu dieser Zeit wurde das Staatsgut mit dem lauten Namen „Kusnez des Sozialismus“ für die Absolventen der Waisenhäuser gegründet.

Zu jener Zeit waren diese Gegenden eine wahre Einöde. Endlose Steppen, in denen man auf hunderten von Kilometern weder ein Dorf noch einen Reisenden traf. Das Staatsgut breitete sich auf diesem weiten Land mit unglaublichem Elan aus. Hierher kamen junge Komsomolzen und Waisenkinder aus dem ganzen Land. Sie lebten hier, arbeiteten, teilten sich Unterkunft und Nahrung wie eine große multinationale Familie.

Für David war dieser Ort eine echte Entdeckung. Zum ersten Mal traf er so viele verschiedene Menschen: Weißrussen, Moldauer, Tataren, Armenier. Sogar in der Kantine des Staatsgutes gab es eine bunte Vielfalt. Der Koch für die ersten Gerichte war ein Ukrainer, für die zweiten war ein Usbeke verantwortlich, und für das Gebäck sorgte Achat – ein Kaukasier, in dem georgisches und kabardisches Blut flossen.

Achat war ein Mann mit einer komplizierten Geschichte. Seine Geschichte, die David später hörte, erschütterte ihn. Onkel mütterlicherseits, die die „Schande“ einer gemischten Ehe nicht akzeptierten, töteten Achats Vater. Der Verlust des geliebten Mannes trieb seine Mutter zum Selbstmord. Die Großmutter gab dem Jungen für kurze Zeit Wärme und Zuflucht, starb aber bald. Die Verwandten weigerten sich, den „Bastard“ aufzunehmen, und der fünfjährige Achat landete im Waisenhaus.

Jetzt jedoch war Achat einer der auffälligsten Menschen im Staatsgut. Von mittlerer Größe, aber mit mächtigen Schultern, besaß er unglaubliche Kraft und gewann immer bei den Wettkämpfen im Staatsgut. David, klein und schmächtig, konnte nicht anders und forderte den Mestizen im Sportring heraus. Der Kampf war kurz, aber selbst Achat musste sich anstrengen. David verlor, aber sein Mut und seine Beharrlichkeit beeindruckten Achat. Von da an wurden sie Freunde.

Achat, der mit einem freundlichen Lächeln an den Ring dachte, neckte David manchmal:

„Du, Deutscher, kannst nicht nur mit dem Schmiedehammer umgehen, sondern versuchst auch, Feuer in einem Kampf zu zeigen. Gut gemacht, du hast echten Mut!“

Und David nickte, gerötete Wangen, wissend, dass in diesem neuen Ort seine Beharrlichkeit und Ausdauer ihm helfen würden, sein Leben neu aufzubauen.

Am Tisch des Staatsgutes probierte David zum ersten Mal in seinem Leben Gerichte wie Vinaigrette, Okroschka, Charcho, Kohlrouladen, Wareniki und sogar Schaschlik. Letzteres war übrigens speziell für ihn von Achat zubereitet worden, der beschloss, seinen Freund mit etwas Besonderem zu verwöhnen. Der Duft von gebratenem Fleisch mit Gewürzen, der von den Spießen aufstieg, ließ den Jungen alles andere vergessen. Es war ein wahres Fest der Sinne – ganz anders als die bescheidene Suppe, an die er gewöhnt war.

Die Kantine des Staatsgutes beeindruckte David überhaupt. Offene, lange Tische, hunderte von Menschen, die aßen, ohne sich zu verstecken oder Angst zu haben – all das war für ihn neu. Wenn er sich an sein Dorf Müller erinnerte, konnte er sich an diese Freiheit nicht gewöhnen. Dort, in den Hungerjahren, war Essen fast etwas Verbotenes, wie eine Sünde, die man verbergen musste. Man aß schnell, heimlich, oft in einer Ecke, weit weg von den Augen der Passanten. Die Fensterläden wurden geschlossen, damit niemand sah, wie die Familie ein bescheidenes Stück Brot oder eine Schüssel Suppe teilte. In den schwersten Zeiten versteckten sie das Essen sogar voreinander, um keinen Neid oder Tränen zu wecken.

Aber hier im Staatsgut war es anders. Hier herrschte Gemeinschaft. Ja, das Leben war hart, und die Arbeit zermürbend, aber niemand starb vor Hunger, und das Essen hörte auf, ein Symbol des Überlebenskampfes zu sein. David begann zu verstehen, was es bedeutet, unter Menschen zu leben, mit ihnen Arbeit und Freude zu teilen.

Die Arbeit im Staatsgut war jedoch nicht nur schwer, sondern auch kompromisslos. Jeder wusste: Um „ein neues Leben zu schmieden“, musste man all seine Kräfte investieren. Die Komsomolzen brannten vor Enthusiasmus und nannten sich stolz die Baumeister der Zukunft. Die älteren Genossen aus der Parteikommission ließen nicht nach – sie behielten den Überblick, unterstützten den kämpferischen Geist mit Vorträgen und erinnerten an die Bedeutung ihrer Arbeit.

Der Klub in der Siedlung wurde nur bei besonderen Anlässen geöffnet – meist zu staatlichen Feiertagen. Und vor den Tänzen gab es immer eine feierliche Rede oder einen Vortrag. Dies war ein unveränderlicher Teil des Lebens im Staatsgut – etwas Formalität, etwas Spaß.

David hörte diesen Vorträgen mit Mühe zu, verstand wegen der Sprache nicht alles, aber er fühlte: Hier war alles anders. Dies war eine neue Welt, in der die Menschen zusammenarbeiteten, als Gemeinschaft lebten, und jeder seine Bedeutung spürte. Sogar so ein kleiner und unbeholfener Junge wie er.

***

Es sind drei Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte sich David deutlich verändert. Er war breiter in den Schultern, den Wangenknochen geworden, und sein Nacken sowie seine Arme hatten sich mit Muskeln gefüllt, als wären sie mit schwerem Blei gefüllt. Ja, mit genau dem schweren Metall, das nicht zu heben ist. Wie sollte man sonst erklären, dass er in jener Zeit, als Gleichaltrige in der Regel um fast einen halben Meter wuchsen, nur mühsam zwanzig Zentimeter hinzugewann?

– Aber dafür hast du genug Kraft für zwei, – ermutigte ihn Achat, klopfte seinem Freund auf die Schulter.

– Und der neue Kettentraktor ‚Kommunar‘ wird sicher mir gehören, – lachte David im Gegenzug. – Ich bin wohl der Einzige unter den Traktoristen, der in seiner Kabine stehend arbeiten kann!

David hatte die russische Sprache überraschend schnell erlernt, was alle ziemlich verblüffte. Obwohl ihm neue Wörter schwerfielen, beeindruckte er die Umgebung mit seiner klaren, fast fehlerfreien Aussprache. Die für Ausländer schwierigsten Laute – Ч, Щ, Ж, Ы – sprach er aus, als wäre er mit ihnen geboren.

David hatte das auf die Art eines Schmieds gelernt: durch Beobachtung, Beharrlichkeit und Fantasie. Zum Beispiel, um Ч und Щ richtig auszusprechen, stellte er sich vor, wie heißes Metall scharf in kaltes Wasser getaucht wurde. Der Laut Ж verband sich für ihn mit dem Geräusch einer Feile, die über Stahl schrammte.

Und der besonders schwierige Laut Ы, der im Deutschen einfach nicht existiert, war David inzwischen bestens vertraut. Eines Tages in der Schmiede, als er seinem Vater half, schlug er versehentlich mit dem Hammer auf seinen Finger. Der Nagel, das ist klar, wurde am nächsten Tag schwarz, aber der Schmerz im Moment des Aufpralls war so stark, dass der Junge am liebsten geheult hätte, wie ein Wolf. Stattdessen, mit zusammengebissenen Zähnen und gespannten Lippen, ließ er nur ein dumpfes „Уыыы!“ von sich.

So wurde Ы, das im Deutschen einfach nicht existierte, für David vertraut und sogar eigenartig.

Mit der Zeit gelang es ihm, das Chaos der russischen Sprache in seinem Kopf zu ordnen – mit ihren vielen Fällen, Regeln und unzähligen Ausnahmen. Wie ein erfahrener Meister wählte er die Wörter so sorgfältig aus, wie eine Mutter die Schraube zu einer Mutter.

Doch es blieb eine Schwäche – das deutsche Verb „haben“. Dieses universelle Verb war so tief in seiner Rede verwurzelt, dass David es unweigerlich auch in russische Sätze einfügte.

– Ну, ты haben, давай быстрее!(Nun, du haben, beeil dich!), – konnte er seinem Kameraden sagen.

Diese zufälligen „haben“ ärgerten ihn selbst sehr, aber bei seinen Freunden lösten sie stets Lachen aus.

So behielt David, obwohl er sich redlich bemühte, „ein richtiger Russe“ zu werden, stets einen warmen Schein seiner deutschen Seele in sich.

Mit Technik jedoch hatte David nie Probleme. Jedes Teil eines Traktors konnte er blind, einfach durch Tasten erkennen. Sei es der „Kolomensky“, der „Zaporozhets“ oder der „Fordzon-Putilovets“, alles, was kaputt ging, erlangte in seinen Händen schnell ein neues Leben. Und den Einzylinder-Motor des „Karlik“ zerlegte David so schnell und baute ihn wieder zusammen, dass der kleine Traktor schon am Ende der Arbeitsschicht stöhnte, pfiff, fuhr und sicher pflügte.

Die Kollegen in der Maschinen-Traktor-Station (MTM) hatten längst bemerkt, dass David immer als Erster zur Arbeit kam und das mit unverhohlener Freude. Es war ihm nie nötig, erinnert oder gezwungen zu werden: Er lebte förmlich in der Werkstatt. Abends, wenn die anderen Arbeiter nach Hause eilten, blieb er oft, um das Begonnene zu vollenden oder einfach ein weiteres Rätsel des Eisenmechanismus zu lösen. Kein Mensch, sondern eine echte Maschine.

Die Leiterin, Nina Petrowna, hegte große Zuneigung für den fleißigen und besonnenen Jungen. Sie war besonders beeindruckt davon, dass David im Gegensatz zu vielen anderen Traktoristen im Staatsgut nie mit seinem Wissen und Können prahlte. Er versteckte sich nie hinter Ausreden wie „Das ist nicht meine Arbeit“ oder „Das soll der Spezialist erledigen“. David nahm gerne jede Arbeit an und bot oft seine Hilfe an, wenn er ein Problem bemerkte.

– Er hätte ein Landstreicher oder Bettler werden können, – sagte sie nicht selten mit Stolz. – Aber nein, er hatte genug Willensstärke und Verstand, um seinen Platz im Leben zu finden. Sieh nur, wie er fest auf seinen Beinen steht, wie ein echter Mann.

Die alleinstehende Kommunistin Nina Petrowna nannte David oft ihren Sohn, den sie nie gehabt hatte. Und das waren keine leeren Worte – sie war wirklich stolz auf den Jungen, der es geschafft hatte, sein schwieriges Schicksal in einen Weg des Erfolgs zu verwandeln.

Der Leiter der Werkstatt im Staatsgut, Onkel Anton, der einst für den deutschen Jungen bürgte, zeigte nun ebenfalls Zufriedenheit. David hatte seine Erwartungen voll erfüllt. Mehr noch, er war in seinem Handwerk so weit gekommen, dass Anton ihm das Unterrichten anderer Traktoristen anvertraute, obwohl diese oft älter waren als ihr Lehrer.

– Ich sagte doch, dass aus ihm etwas wird, – wiederholte Onkel Anton oft und schaute auf den fleißigen Jungen. – Sieh, wie die Jungs zu ihm aufschauen. Ein echter Fund.

Doch hinter all dieser "Erwachsenheit" des Teenagers schimmerte immer noch seine Kindheit hindurch. Besonders nachts, wenn er sich mit der Decke bis zum Kopf bedeckte und die Augen fest zuschloss, hatte er das Gefühl, seinen Vater zu sehen. In seiner Vorstellung saßen sie nebeneinander wie in alten Zeiten, und David erzählte stolz von seinem neuen Leben im Staatsgut. Er teilte jeden Erfolg mit: wie er den Traktor repariert hatte, wie er die neue Technik erlernt hatte, wie er bei der Ernte geholfen hatte. Es schien, als hörte der Vater aufmerksam zu und nickte zustimmend.

Natürlich sehnte sich David auch nach seiner Mutter. Ja, sie hatte ihn fortgeschickt. Ja, sie hatte ihn verraten. Aber sie war schließlich seine Mutter. Das Blut der Mutter konnte man nicht auslöschen, nicht ausmerzen. Es floss in ihm, brannte, rief ihn auf, zu verstehen und zu vergeben. „Ich muss sie unbedingt besuchen“, entschloss er sich eines Tages, die Fäuste ballend.

Wann aber? Und wie? Das Leben im Staatsgut war bis auf die Minute durchgeplant: mal die Aussaat, mal die Ernte, mal die Traktoren reparieren, mal eine neue Aufgabe übernehmen. Und all das lag auf ihm, dem jungen Komsomolzen. Keine Fehler, nichts versäumen. Und dazu noch das Studium – er musste sowohl Traktorist werden als auch seine Ausbildung nicht vernachlässigen.

Aber selbst wenn er freie Zeit gefunden hätte, wäre es nicht einfach gewesen, ins Dorf Müller zu gelangen. Direkt über die Wolga – ein Katzensprung, aber es gab keine Transportverbindung zwischen den Ufern. Fischer? Die musste man erst finden und überreden, sie hinüberzusetzen. Es blieb der lange Küstenweg.

Zuerst musste er stromaufwärts zur Stadt Pokrowsk fahren – hundert Kilometer bis zur Stadt, die in diesem Jahr zu Ehren von Friedrich Engels umbenannt worden war. Jetzt war sie die Hauptstadt der deutschen autonomen Republik. Von Engels aus musste er mit der Fähre über die Wolga nach Saratow übersetzen. Und dann wieder stromabwärts, noch hundert Kilometer, zu seiner Heimat.

David seufzte. An einem Tag würde es sicher nicht zu schaffen sein. Diese Reise schien ihm unendlich lang und anstrengend. Aber irgendwo tief in seinem Inneren glomm der Gedanke: „Ich werde einen Weg finden. Bestimmt finde ich einen.“

Hauptsache, der Wille ist da, und er wird einen Weg finden. Und es geschah etwas völlig Unerwartetes, von dem David nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ende September 1932 organisierte das Staatsgut „Kuznets des Sozialismus“ ein Erntefest zum Abschluss der Herbstarbeiten. Das Staatsgut hatte in allen Bereichen die ersten Plätze im Selmaner Kanton erreicht. Die Zeitungen lobten die Erfolge der Schützlinge – der Waisenkinder, die durch Arbeit und Fürsorge zu echten Baumeistern des Sozialismus herangewachsen waren. Alle Interessierten wurden eingeladen, die Ausstellung zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie das fortschrittliche Staatsgut arbeitete.

David bereitete sich auf das Fest vor, polierte seine neu gekauften Schuhe bis zum Glanz, bügelte die maßgeschneiderten weiten schwarzen Hosen und das ordentliche Kittelhemd. Lange stand er vor dem Spiegel und versuchte, seine widerspenstigen Locken zu bändigen, die in alle Richtungen abstanden, als wollten sie sich über seine Bemühungen lustig machen. Der ganze Prozess wurde begleitet von einer Rede, die er auf der Versammlung halten sollte. Schließlich gab er der widerspenstigen Frisur nach, setzte die Mütze auf und vergaß dabei völlig, dass Redner normalerweise vor der Tribüne den Hut abnehmen.

David wusste bereits, dass sein Porträt gestern auf der Tafel der Arbeiter des Monats vor dem Verwaltungsgebäude des Staatsgutes erschienen war. Auf dem Weg durch die Straße bemerkte er immer wieder, wie ihn die Dorfbewohner begrüßten und ihm gratulierten. Die Verlegenheit ließ seine Wangen erröten, aber er nickte nur und versuchte, seine Freude zu verbergen. Doch sein Herz pochte im Takt eines triumphierenden Marsches – es schien fast aus seiner Brust zu springen vor überschäumendem Stolz.

Er wusste, was er erreicht hatte. Noch vor kurzem war er ein einfacher deutscher Junge, aus dem Haus vertrieben, und nun war er der Held des Tages. David verstand, dass seine Arbeit, seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen ihm mehr eingebracht hatten, als er je zu hoffen gewagt hatte. Doch trotz des überwältigenden Stolzes versuchte er, seine Gefühle nicht zu zeigen. Er wollte nicht, dass jemand dachte, er sei überheblich geworden.

Plötzlich blieb er stehen, als stieß er auf eine unsichtbare Barriere. Auf der breiten Straße mit dem verdichteten Lehmboden kamen ihm seine Mutter und der Stiefvater entgegen.

Ein Moment schien stillzustehen. Alle drei standen wie versteinert. Einst hatte sich David diese Begegnung ganz anders vorgestellt. In seinen Träumen war er stark, schön und selbstbewusst zurück in das Heimatdorf Müller gekommen. Die Dorfbewohner liefen hinter ihm her, riefen:

– David! David ist zurück!

Er stellte sich vor, wie er in das Elternhaus gehen würde, einen ganzen Sack mit Bonbons, Bagels und Lebkuchen auf den Tisch kippen würde und seiner Mutter einen teuren Schal über die Schultern legen würde, den er längst für sie gekauft hatte. Und der Stiefvater und die Stiefbrüder würden abseits stehen, gequält von Neid und Scham.

Aber alles war ganz anders.

– Mama!, – rief David schließlich.

Er stürzte auf Maria zu, nahm sie in seine kräftigen Arme und drückte sie fest an sich. Seine Mutter, die sich noch nicht von dem Schock erholt hatte, stand regungslos da, als fürchtete sie, sich zu bewegen. David hielt sie lange, sehr lange, als hätte er Angst, sie könnte wieder verschwinden wie ein Traum.

Der Stiefvater, auch wenn er versuchte, keine Miene zu verziehen, war offensichtlich nicht besonders erfreut über die Begegnung mit seinem Stiefsohn. Heimlich musterte er David, als würde er ihn von Kopf bis Fuß bewerten. Drei Jahre – das war eine lange Zeit, und in dieser Zeit hatte sich der Junge merklich verändert: er war gewachsen, kräftiger geworden und sah ziemlich gepflegt aus. Die gut sitzende Kleidung und die selbstbewusste Haltung ließen eindeutig darauf schließen, dass das Leben im Staatsgut ihm gutgetan hatte.

Das unangenehme Schweigen dehnte sich, und Detlef riss vorsichtig seine Frau am Ärmel, als wollte er alle zurück in die Realität holen:

– Nun, nun, wir müssen gehen, sonst ist die Ware schon weg, – sagte er mit leicht hastiger Dringlichkeit.

Diese Worte rissen David plötzlich aus seinen Gedanken. Er ließ seine Mutter los, trat einen Schritt zurück und blickte Detlef streng an. Doch anstelle des gewohnten kindlichen Ärgers war sein Blick ruhig, fast erwachsen. Als Zeichen des Respekts nickte David und streckte dem Stiefvater die Hand entgegen.

Mayer war verwirrt. Er hatte mit dieser Geste nicht gerechnet und reichte ihm langsam die Hand zurück. Die Hand seines Stiefsohns war stark, vielleicht sogar zu stark für einen Teenager, aber David blickte ihm ruhig und direkt in die Augen. Detlef spürte, dass der Junge nicht darauf aus war, seine Stärke zu demonstrieren – im Gegenteil, in diesem Händedruck lag etwas Versöhnliches. Ein freundliches, etwas verlegeneres Lächeln auf Davids gebräuntem Gesicht sprach von Vergebung.

Bevor Detlef etwas sagen konnte, erklang hinter David eine vertraute Stimme:

– Davidschka, mein Sohn, ich habe dich gesucht! Ich bin schon ganz durcheinander!

Nina Petrowna, die Leiterin des Staatsgutes, eilte auf ihn zu. Ihr unverwüstliches rotes Kopftuch stach im Gegensatz zur eleganten Uniform hervor: ein Hemd mit Rock statt des gewohnten Overalls. Auf ihrer Brust prangte der Orden des Roten Banners, doch an ihren Füßen trug sie immer noch die einfachen Stiefel, als wäre sie gerade von der Arbeit zurückgekehrt.

– Ich grüße euch! – sagte sie freundlich und wandte sich an Detlef und Maria. –Seid ihr auch auf dem Markt? Woher kommt ihr?

– Das ist meine Mutter, – antwortete David hastig und etwas verlegen. – Aus Müller, von der anderen Seite.

– Wie das?, – fragte Nina Petrowna erstaunt und zog eine Augenbraue hoch. – Du hast doch gesagt, du bist ein Waisenkind.

David errötete, da er wusste, dass er es besser früher hätte erzählen sollen:

– Mein Vater ist nur gestorben… und meine Mutter hat geheiratet… Mayer.

– Na, dann ist es klar, – lächelte Nina Petrowna sanft, ohne einen Vorwurf zu zeigen. Sie nahm Maria und Detlef freundschaftlich unter die Arme. – Kommt, ich zeige euch etwas.

Natürlich führte die Leiterin des Sowchos sie sofort zur Ehrenwand. An der hell erleuchteten Wand prangten die Porträts der besten Arbeiter: Melkerinnen, Mechanisatoren, Agronomen. Unter ihnen stach das Foto eines jungen Mannes hervor, mit der Unterschrift: „Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, Traktorist, Komsomolez David Schmidt.“

Maria, wie verzaubert, strich vorsichtig über das Glas, hinter dem das Bild ihres lächelnden Sohnes lag. Dann schaute sie, mit einer Mischung aus Besorgnis und Stolz, zu David, als wollte sie fragen:

– Bist du das wirklich?

David wurde verlegen, klatschte sich mit der Hand an die Stirn und lachte:

– Na so was! Nina Petrowna, – wandte er sich fast flüsternd an die Leiterin, – sie können ja nicht auf Russisch lesen. Und sie verstehen nicht alles. Sie brauchen eine Übersetzung.

Nina Petrowna lächelte, nickte verständnisvoll und erklärte Maria und Detlef in verständlicher Sprache den Inhalt der Inschrift.

Anschließend führte sie sie zum Gemeinschaftswohnheim. Der Raum war sauber und hell, mit zwei Etagenbetten. Entlang des Ganges stand eine ordentliche Reihe gleicher Hocker, und der Holzboden glänzte von gründlicher Reinigung. An den Fenstern hingen kurze, bunte Vorhänge, die für eine gemütliche Atmosphäre sorgten.

David erinnerte sich plötzlich an etwas Wichtiges. Er rannte zu einem der Betten, schob die Hand unter die Strohmatratze und zog ein sorgfältig eingewickeltes Papierbündel heraus. Als er es entrollte, nahm er mit Sorgfalt ein graues Kaschmir-Tuch heraus. – Es ist sehr weich und warm, – sagte David schüchtern, als er das Tuch über die Schultern seiner Mutter legte. – Aus Ziegenwolle.

Maria, als ob sie es nicht fassen konnte, setzte sich an den Rand des unteren Bettes. Sie strich lange und mit offensichtlicher Ehrfurcht über das zarte Tuch auf ihren Schultern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie sagte kein Wort, aus Angst, diesen Moment zu zerstören.

Detlef, der dies sah, trat einen Schritt zurück, setzte sich auf einen der Hocker und zündete sich eine Zigarette an. David warf einen flüchtigen Blick auf seinen Stiefvater, dachte nach und dann, als hätte er eine Entscheidung getroffen, griff er in die Tasche seiner Hose und zog ein kleines Taschenmesser heraus.

Es war das Messer seines leiblichen Vaters – das einzige Erinnerungsstück, das er noch hatte. David hütete diesen Gegenstand sehr, aber jetzt dachte er, dass der Moment Opfer erforderte. Er trat zu Detlef, reichte ihm das Messer und sagte: – Das ist für dich.

Detlef erschrak und ließ fast seine Zigarette fallen. Vorsichtig nahm er das Messer, als ob er fürchtete, es zu zerbrechen oder diesen Moment zu entweihen, und legte seine Arme um David.

– Danke… – flüsterte er ihm ins Ohr. Dann atmete er aus und fügte hinzu: – Entschuldige mich.

David umklammerte nur fester seine Hand und zeigte damit, dass alle Groll der Vergangenheit angehörte.

Nina Petrowna stand im zentralen Gang der Gemeinschaftswohnheim, mit verschränkten Armen, als versuche sie, sich vor zu viel Emotionalität zu bewahren. Sie beobachtete David und seine Mutter, ihre berührende, wenn auch zurückhaltende Begegnung. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Stolz, Rührung und leichter Strenge – jene Wärme, mit der sie ihre Schützlinge normalerweise umgab.

Sie hatte schon alles verstanden. Ihr scharfer Verstand und ihre Erfahrung hatten schnell ein Bild zusammengesetzt: warum dieser Junge in ihren Kolchos gekommen war, warum er mit solchem Eifer jede Arbeit übernommen hatte und wie er trotz aller Schwierigkeiten mehr erreicht hatte, als viele Erwachsene es sich hätten erträumen können. Und jetzt, als sie Maria vor sich sah, fühlte Nina Petrowna nicht nur Mitleid, sondern auch ein Gefühl von Gerechtigkeit.

„Wie konnte die Mutter nur so etwas zulassen?“, dachte sie. „Dass ihr eigenes Kind gezwungen war, sich ein Leben fern von seiner Familie zu suchen?“

Doch äußerlich blieb sie zurückhaltend. Ihre Stimme klang beschwingt, aber mit einer leichten Note der Erziehung: – Hast du deine Rede für das Treffen schon gelernt? – fragte sie David, als wolle sie ihn aus dem Strudel der Emotionen zurück zu den alltäglichen Dingen führen.

– Natürlich! – nickte David mit aufrichtiger Überzeugung und richtete seine Mütze.

– Na, dann pass mal auf! – hob Nina Petrowna die Stimme etwas, während sie mit dem Finger auf ihre Medaille tippte, als wollte sie an die Disziplin erinnern. – Du bist heute unser Hauptdarsteller. Du hast doch sicher gesehen, wie viele Leute gekommen sind, um dich zu bewundern. Enttäusche uns nicht!

Die Worte der Leiterin klangen wie eine leichte Ermahnung, aber in ihnen war ein aufrichtiges Vertrauen in den Jungen zu spüren. Sie sah, wie David sich bei ihren Worten aufrichtete, offensichtlich die noch größere Verantwortung spürend.

Doch ihr Blick fiel wieder auf Maria, die immer noch am Rand des Bettes saß, mit dem geschenkten Tuch um die Schultern, als ob sie sich unter dem Schutz ihres Sohnes befände. Es schien, als würde die Frau kaum glauben, was geschah, als könnte sie nicht fassen, dass vor ihr nicht mehr der Junge stand, den sie einst vertrieben hatte, sondern ein starker, selbstbewusster junger Mann, der für andere zum Vorbild geworden war.

„Wie sehr wünsche ich mir, dass sie versteht, was sie verloren hat“, dachte Nina Petrowna, während sie sie aufmerksam beobachtete. „Dass sie sich selbst für den Schmerz bestraft, den sie diesem Jungen zugefügt hat. Aber wenn man in ihre Augen sieht, scheint es, als ob sie es bereits versteht. Nicht alle Fehler kann man rückgängig machen, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, einen neuen Anfang zu wagen?“

Maria hob den Blick zu Nina Petrowna, als hätte sie ihre Gedanken gespürt. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem kurzen Moment des Schweigens schien die Leiterin ihr ein unsichtbares Vorwurf, aber auch Hoffnung – eine Chance zur Sühne – zu übermitteln.

– Aber wir gehen noch nicht zum Treffen, Maria, – unterbrach Nina Petrowna schließlich das Schweigen. – Hier im Kolchos gibt es etwas Interessantes. Ich denke, es wäre gut für dich zu sehen, wo und wie dein Sohn so große Erfolge erzielt hat. Und zugleich werden wir… über etwas Wichtiges sprechen.

Sie ergriff Maria beim Arm und nickte leicht Detlef zu, um ihn einzuladen, ihnen zu folgen. David blieb im Gang stehen und verfolgte sie mit seinem Blick. Er wusste: Nina Petrowna hatte etwas im Sinn. Und obwohl er sich nicht sicher war, was genau, fühlte er sich leichter. Mit ihrer Fürsorge konnte er sich sicher sein, dass seine Mutter endlich sehen würde, was er erreicht hatte, und vielleicht begreifen würde, was für ein Mensch er trotz aller Prüfungen geworden war.

Nina Petrowna führte Maria mit sicherem Schritt über die breite Straße des Sowchos und sprach dabei:

– David ist ein erstaunlicher Junge. Ich sage es ganz offen: Solche fleißigen und anständigen Menschen trifft man selten. Ich erinnere mich noch gut, wie er hierher kam, hungrig und obdachlos. Klein, dünn, ängstlich, aber mit so einem Feuer in den Augen… Ich wusste sofort, dass ich mit ihm arbeiten musste, ihm helfen, sich zu entfalten.

Maria hörte schweigend zu, ihr Herz zog sich bei jedem Wort zusammen. Sie hielten vor einem niedrigen Gebäude mit einem weiten Dach – es war das örtliche Waisenhaus, in dem Davids neues Leben begann.

– Hier, Maria, hat Ihr Sohn auf eigenen Füßen gestanden. Hier hat er gelernt, stark und selbstständig zu werden. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.

Im Inneren war das Gebäude gemütlich, mit geräumigen Zimmern, bunten Teppichen auf dem Boden und Wänden, die mit Fotos geschmückt waren. Nina Petrowna blieb vor einer der Tafeln stehen und deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Darauf war David, noch ein kleiner Junge, in einem viel zu großen Overall, mit einem ernsten, aber entschlossenen Blick, der neben einem Traktor stand.

– Das war das erste Jahr bei uns, – erklärte Nina Petrowna. – Da konnte er nicht einmal richtig den Schlüssel in der Hand halten. Und jetzt schauen Sie ihn sich an – Mechaniker, Vorbild, und auch ein Beispiel für die anderen Jungs.

Maria fuhr langsam mit ihren Fingern über das Foto. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht ihres Sohnes abwenden. In diesem Moment durchfuhr sie ein Schmerz: all die Jahre, in denen er hier heranwuchs und erwachsen wurde, war sie nicht bei ihm.

– Aber das ist noch nicht alles, – fuhr Nina Petrowna fort und führte sie weiter.

Sie betraten einen geräumigen Raum, der wie eine Werkstatt aussah, aber statt Traktoren gab es hier Zeichnungen, Pläne und Modelle.

– Hier bringt David den anderen Jungs das Handwerk bei. Sehen Sie? Das sind seine Ideen. – Die Leiterin zeigte auf die sorgfältigen Aufzeichnungen und Skizzen an der Tafel.

Maria schüttelte den Kopf, unfähig, ihren Augen zu trauen.

– Ihr Junge, Maria, hilft den anderen, besser zu werden. Das ist nicht nur Fleiß, sondern auch ein gutes Herz. Wissen Sie, viele von uns könnten verbittert werden, aber er hat einen anderen Weg gewählt.

Maria konnte nicht mehr an sich halten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte stumm.

– Ich verstehe alles, – flüsterte sie durch die Tränen. – Ich habe einen Fehler gemacht, einen schrecklichen Fehler…

Nina Petrowna legte sanft ihre Hand auf ihre Schulter.

– Ja, Sie haben viel verloren, – sagte sie, ohne zu trösten. – Aber solange David noch mit Hoffnung auf Sie schaut, haben Sie die Chance, es zurückzubekommen. Alles liegt bei Ihnen.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und David blickte hinein.

– Mama, – seine Stimme war leise, aber voller Liebe, – ist alles in Ordnung?

Maria hob ihre weinenden Augen und nickte.

– Ja, es ist in Ordnung, mein Junge. Jetzt – ja.

Sie stand auf, wischte sich die Tränen ab und umarmte ihn fest. Zum ersten Mal seit langem spürte sie, dass ihr Herz Frieden fand.

Es waren noch zwei Stunden bis zum Treffen, und David zog seine Mutter und seinen Stiefvater in die Werkstatt des Kolchos. Maria war sichtlich verlegen, denn immer wieder kamen Arbeiter der Werkstatt zu ihrem Sohn, drückten ihm die Hände, klopften ihm lobend auf die Schulter und sagten etwas auf Russisch. Nur ein großer erwachsener Mann mit einer zusammengerollten Zeitung unter dem Arm sprach ihn auf Deutsch an:

– Der Traktor von Prochor springt nicht an. Sieh dir das bitte mal an, – sagte er.

– Onkel Anton, lass es jetzt bitte, – bat David, – meine Eltern sind hier.

– Gut, aber vergiss es nicht, bitte, – Anton betrachtete die Gäste aufmerksam.

David, der bemerkte, wie seine Mutter und sein Stiefvater sich ansahen, sagte fröhlich:

– Seht ihr, was ich hier zu tun habe? Sogar Onkel Anton kann nicht ohne mich!

Er lächelte, aber in seiner Stimme war Stolz zu hören. Der Junge ging selbstbewusst zum nächsten Traktor und klopfte auf sein massives Rad.

– Dieser Traktor, den haben wir letzte Woche zusammen mit den Jungs repariert. Er ist ganz alt, aber jetzt läuft er wie neu!

Maria fühlte eine bittersüße Freude, als sie ihren Sohn ansah. Sie verstand: Er war so geworden, dank seines Kampfes, seiner Arbeit, aber ohne sie. Der Stiefvater, nicht wissend, was er sagen sollte, nickte nur, obwohl er offensichtlich aufrichtig beeindruckt war.

David fuhr fort zu erzählen und zeigte verschiedene Details der Werkstatt: Werkzeugsets, ordentlich an den Wänden aufgehängt, ein großes Regal mit Ersatzteilen. Irgendwann holte er ein zusammengerolltes Blatt Papier aus seiner Tasche.

– Und das hier, – sagte er, entfaltete das Blatt und zeigte einen Plan, – ist mein Projekt. Wir wollen einen alten Pflug umbauen. Wenn alles klappt, wird er leichter und schneller.

Maria sah den Plan an, verstand die Details nicht, aber bewunderte, wie sicher ihr Sohn darüber sprach.

– Hast du das selbst erfunden? – fragte sie leise.

David lachte.

– Nicht ganz. Nina Petrowna hat mich angestoßen, aber dann – Bücher, Praxis. Hier muss man mit dem Kopf arbeiten, nicht nur mit den Händen, wenn man etwas erreichen will.

Die Mutter schüttelte den Kopf und sah ihn an. In ihren Augen war Bewunderung, vermischt mit Schmerz.

– Kann ich helfen? – fragte plötzlich Detlef und zeigte auf den Plan.

David sah überrascht zu seinem Stiefvater.

– Sie verstehen etwas von Plänen?

– Naja, ein bisschen. Mein Vater hat mich als Kind unterrichtet… – Detlef lächelte unsicher.

– Dann los! – David wurde lebendig. – Die Teile sind da drüben.

Detlef, den freundlichen Ton seines Stiefsohns spürend, war sofort dabei.

Maria setzte sich auf eine Holzbox und beobachtete, wie ihr Sohn und Ehemann etwas am Werkbank besprachen. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie einen schwachen, aber klaren Funken der Hoffnung.

„Vielleicht ist noch nicht alles verloren“, dachte sie und hielt den Plan in den Händen, den ihr Sohn ihr gegeben hatte.

Dann ging die kleine Gruppe direkt in die Kantine. David wollte seine Eltern unbedingt mit seinem Freund Achat bekannt machen.

Leider gelang es ihnen nicht, sich zu unterhalten. In der Küche herrschte heute ein riesiges Durcheinander: Sie kochten, brieten und dämpften nicht nur für die eigenen Leute, sondern auch für die zahlreichen Gäste des Marktes. Koch Nazariy, der sich eine Minute Zeit nahm, setzte sich mit einem Teller noch heißer “Piroschken” (Kartoffelpasteten) und drei Bechern Kompott zu den Schmidts.

– Lass euch schmecken, ich habe das selbst gemacht, – schlug er vor, in russischer Sprache mit starkem ukrainischem Akzent, und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von seinem erhitzten Gesicht.

– Der Teig ist Ihnen aber sehr gut gelungen, – sagte Maria auf Deutsch.

David übersetzte, streichelte die Hand seiner Mutter, sah ihr in die Augen und fügte leise hinzu:

– Na Mama, bei deinen Strudeln gelingt der Teig besser. Stimmt's!?

– Oh! – brüllte der Odessaer, als er das bekannte Wort hörte. – Strudel! Ich kann sie auch backen. Ist doch einfach: Äpfel, Mehl und Zimt.

– Welche Äpfel? – fragte David verwundert.

– Na, welche! Die, die in der Rolle sind. Apfelkuchen.

– Nein, nein! – erwiderte David lachend. – In unseren Strudeln riecht es gar nicht nach Äpfeln. Er lenkte das Gespräch zu seinen Eltern, und alle drei lachten herzlich.

– Strudels sind geschmortes Fleisch mit Sauerkraut, Kartoffeln und darauf gedämpfte Röllchen aus Teig, – erklärte David und stellte sich vor, wie seine Mutter ihm sein Lieblingsgericht serviert. Die Erinnerung war so lebendig, dass er fast den Duft der frisch gebackenen Strudels in der Luft zu riechen glaubte. – Man kann es ohne Brot essen. Statt Brot sind diese Strudels.

– Ein Jahrhundert leben, ein Jahrhundert lernen! – sagte Nazarij zum Abschied, als er sich vom Tisch erhob. – Frag mal deine Mutter nach dem Rezept für diese Strudels, wir machen sie für den ganzen Sowchos.

Maria lächelte, leicht verlegen von diesem Vorschlag, aber tief im Inneren freute es sie, dass das Lieblingsgericht der Familie nun Teil des Lebens ihres Sohnes und seiner neuen Freunde werden konnte.

Während sie am Tisch saßen und die Köstlichkeiten des Kochs mit Rührung aßen, bemerkte David, dass sein Stiefvater nervös war und auf seinem Platz hin und her rutschte.

– Etwas ist nicht in Ordnung? – fragte er direkt und sah ihm ins Auge.

– Wir müssen auf dem Markt noch etwas kaufen, – zögerte der Stiefvater, kratzte sich aus Gewohnheit am Knie. – Ich befürchte, es wird weg sein, solange wir hier sitzen. David lächelte und winkte ab, als wollte er die Sorge vertreiben:

– Keine Sorge! Das Jahr war ertragreich, es wird für alle reichen. Wenn es in den Läden nicht mehr ist, finden wir es im Lager. Da gibt es keine Probleme.

Der Stiefvater nickte nüchtern, aber die Spannung in seinen Schultern ließ etwas nach. Maria, die diese Szene beobachtete, sah nachdenklich ihren Sohn an. Sie bemerkte, wie sicher David sich verhielt – ganz wie ein erwachsener Mann, nicht nur stark, sondern auch bereit, sich um die Familie zu kümmern.

– Gehen wir nach dem Mittagessen, – fügte David hinzu, als wollte er den Punkt abschließen. – Ich helfe euch, das Beste auszuwählen. Hier kennt mich jeder, also werden wir keine Probleme haben.

Maria und der Stiefvater warfen sich einen Blick zu. Selbst solche einfachen Worte ihres Sohnes waren von Fürsorge und innerer Zuversicht durchzogen, was sie erneut spüren ließ, wie sehr David sich verändert und gewachsen war.

Nach einem kleinen Imbiss eilten David, Maria und der Stiefvater zum Verwaltungsgebäude, wo sich bereits die Dorfgemeinschaft und die Gäste des Marktes versammelt hatten. Auf der provisorischen Bühne stand schon die ganze Leitung des Kolchos.

Als sie David sah, winkte ihm Nina Petrowna demonstrativ zu:

– Komm, steig hier hoch!

Sie gab dem Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, David Schmidt, das Wort. Alle klatschten begeistert. Der junge Komsomolez trat schüchtern zum Rednerpult, das mit rotem Stoff bedeckt war. David ging zögerlich zum Rand des Pults, drehte nervös seine Mütze in den Händen. Er wusste sofort, dass es komisch aussehen würde, also stellte er sich einfach daneben. Der Held des Tages sah sich die Versammelten an – es waren viele Leute, und die meisten schauten mit echtem Interesse und Zustimmung zu ihm.

– Komm schon, David, sei nicht schüchtern! – ermutigte ihn Nina Petrowna, und winkte ihm aufmunternd zu.

Er holte tief Luft, als wollte er in eiskaltes Wasser springen, und begann zu sprechen.

– Genossen! – seine Stimme zitterte, aber er fing sich schnell. – Wir alle wissen, dass der Erfolg des Sowchos das Ergebnis gemeinsamer Arbeit ist. Die Arbeit unserer großen Familie…

Mit jedem Satz wurde David selbstbewusster. Er sprach darüber, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten, wie stolz er auf seine Kollegen ist und wie sie gemeinsam immer neue Erfolge erzielen. Seine Worte klangen einfach, aber ehrlich, und seine Gesten verrieten das echte Gefühl der Nervosität.

Währenddessen beobachtete Maria, die in der ersten Reihe stand, mit Staunen ihren Sohn. Ihr kleiner Junge, der noch vor kurzem ein Kind gewesen war, stand nun vor Hunderten von Menschen und sprach, als wäre dies seine Berufung.

Auch der Stiefvater hörte aufmerksam zu und sah David nicht aus den Augen. Es war, als hätte er plötzlich etwas in ihm gesehen, das mehr war als nur ein Teenager. Sein Blick, der zuerst kalt war, wurde allmählich weicher.

Als David fertig war, brach die Menge in Applaus aus. Selbst die ältesten Bewohner des Kolchos, die in der ersten Reihe saßen, nickten anerkennend. Nina Petrowna verbarg ihr Lächeln nicht – sie war stolz auf ihren Schützling.

– Gut gemacht! – rief jemand aus der Menge. David verbeugte sich schüchtern und eilte von der Bühne. Maria, die es nicht mehr aushielt, trat auf ihn zu und umarmte ihn fest, kaum dass er heruntergekommen war.

– Du bist ein richtiger Mann, Daviduschka, – flüsterte sie und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Der Stiefvater reichte schweigend die Hand. David sah sie einen Moment an, dann ergriff er sie mit einem festen, erwachsenen Händedruck.

– Wir sind stolz auf dich, – stieß der Stiefvater hervor und sah David direkt in die Augen…

Nach der Versammlung führte David seine Mutter und seinen Stiefvater durch die Reihen des Marktes, der sich vom Dorf bis ans Ufer der Wolga erstreckte. Aus irgendeinem Grund hatten die Eltern beschlossen, nichts zu kaufen. Der Stiefvater murmelte unklar, dass er das benötigte Teil für den Sämaschine selbst herstellen könne. David beobachtete erstaunt, wie die Eltern es eilig hatten, den Markt zu verlassen. Noch vorhin am Tisch schienen sie ruhig, aber nun schienen ihre Gesichter sich verdunkelt zu haben. Die Mutter vermied seinen Blick, und der Stiefvater, die Lippen zusammengepresst, starrte in die Ferne, Richtung Wolga.

– Mama, was ist mit dem Schweinchen? Du wolltest doch so gern… – versuchte David, sie aufzuhalten. Maria zögerte, sah aber nicht zurück.

– Ein anderes Mal, Daviduschka, – sagte sie so ruhig wie möglich, doch ihre Stimme zitterte. – Der Winter kommt, wir sollten besser warten.

Einmal blieb Maria am Stand mit den hohen Bergen von ausgewähltem Kartoffeln stehen. Sie nahm vorsichtig eine blassrosafarbene Knolle in die Hand, die gleichmäßig mit einer Reihe roter Augen bedeckt war, und sagte bewundernd:

– Mein Gott, wie schön. So passend: Apfel an Apfel!

– Diese Sorte nennen wir hier „Lapot“ (Bastschuh), – pries der Verkäufer sein Produkt an, – sehr gut! Anspruchslos. Wo immer du sie hinwirfst, sie wächst überall. Ich rate dir, sie für Samen zu nehmen.

Maria sah zu ihrem Stiefvater, doch er schüttelte entschieden den Kopf und ging weiter. Sie eilte ihm nach.

David fand es nicht akzeptabel, die Eltern mit leeren Händen zu lassen.

– Efim, hast du einen Sack? – fragte er den Verkäufer. – Gib mir zwei Eimer. Das Geld bringe ich dir später.

David warf die Kartoffeln leicht über die Schulter und eilte, um seine Mutter und den Stiefvater einzuholen.

Maria und der Stiefvater, bemerkend, dass David sie mit einem Sack Kartoffeln auf der Schulter einholte, blieben an einem anderen Stand stehen. Der Stiefvater verschränkte die Arme und runzelte die Stirn.

– Warum hast du das gemacht? – fragte er missmutig, ohne auf eine Erklärung zu warten.

– Einfach so, – zuckte David mit den Schultern und lächelte. – Euch hat doch die Kartoffel gefallen. Und hier sagen sie, dass es die beste Sorte ist. Lassen wir sie nehmen.

Maria wurde verlegen, ihr Blick fiel auf den Sack, den David mit Leichtigkeit auf den Boden gestellt hatte.

– Warum gibst du so viel aus? – sagte sie tadelnd, obwohl Dankbarkeit in ihrer Stimme klang. – Wir wollten doch nur den Markt ansehen. Wir haben kein Geld.

– Mama, hör auf. Das ist keine Ausgabe, sondern ein Geschenk. Keine Sorge, – winkte David ab. – Außerdem habe ich diese Sorte letztes Jahr selbst gepflanzt. Sie wächst, wie sie sagen, „sowohl im Feuer als auch im Wasser“. Sie wird euch bestimmt nützlich sein.

Der Stiefvater sah auf den Sack und dann zu David. Seine Lippen zuckten leicht, aber er hielt sich von einem Lächeln zurück.

– Na, wenn du darauf bestehst, – grummelte er, obwohl seine Stimme weicher wurde.

– Bestehe ich, – bestätigte David fröhlich.

Am Ufer der Wolga wartete der bekannte Fischer im neuen Boot. David fühlte sich plötzlich sehr schuldig wegen seines alten Diebstahls, aber er ließ sich nichts anmerken. Der Nachbar begrüßte seinen herangewachsenen Stiefsohn freudig, anscheinend ahnte er nichts von dessen Beteiligung an dem Diebstahl seines alten Bootes.

– Na, grüße dich, David, – sagte der Fischer kräftig und schüttelte ihm die Hand. – Wie lange ist es her! Ich habe gehört, du bist jetzt ein Star, der ganze Sowchos spricht von dir. Gut gemacht, Junge!

David lächelte angespannt und sah auf den Fischer, der gerade Maria half, ins Boot zu steigen. David legte den Sack Kartoffeln vorsichtig auf den Boden. Vor seinen Augen blitzte für einen Moment jene lange Nacht auf, als er das alte Boot des Fischers gestohlen hatte, um über die Wolga zu kommen.

– Was für ein großes Boot ihr jetzt habt, – sagte David, um sich von seinen Gedanken abzulenken, und klopfte an den Rumpf des neuen Bootes. – Ein echter Hingucker!

– Ja, – grunzte der Fischer und richtete das Ruder. – Dein Stiefvater hat geholfen, es zu bauen. Gut und zuverlässig. Aber das alte war mir schon teuer… Aber was soll's jetzt.

David spürte, wie ihm die Handflächen schweißnass wurden. Es schien ihm plötzlich, als wüsste der Fischer von dem Diebstahl, aber er schwieg aus Respekt vor seiner Mutter oder aus Freundlichkeit.

– Und du, fischst du immer noch? – versuchte David, das Thema zu wechseln.

– Natürlich! Die Wolga ist großzügig. Genug geredet, es wird Zeit, loszufahren.

Maria und Detlef hatten sich bereits im Boot niedergelassen, und der Fischer reichte David die Hand, bevor er sich vom Ufer abstieß.

– Komm doch mal vorbei. Erinnerst du dich, wie ich dir als Junge das Angeln beigebracht habe? Wir können zusammensitzen und reden.

David nickte, ohne Worte zu finden. Als das Boot ablegte, blieb er noch lange am Ufer stehen und schaute dem sich entfernenden Gefährt nach. In seinem Kopf wirbelten Scham, Dankbarkeit und der Wunsch, alles wiedergutzumachen, durcheinander.

„Irgendwann“, dachte er. „Irgendwann werde ich ihm die Wahrheit sagen. Und ich werde alles tun, um mir seine Vergebung zu verdienen.“

***

Im mittleren Wolgagebiet war der Winter wie immer kalt und schneereich. Bereits Mitte Dezember, als die Temperaturen unter zwanzig Grad fielen, war die Wolga von Eis bedeckt.

David befand sich im Gebäude der Sowchosverwaltung, als plötzlich in der Nähe heftige Explosionen zu hören waren. Er zuckte unwillkürlich zusammen. Der Knall war so stark, dass es schien, als hätte selbst die Luft erzittert. Die Fensterscheiben klirrten leise, und an einigen Türen vibrierten lose befestigte Scharniere. Die Menschen im Verwaltungsgebäude erstarrten für einen Moment, als ob sie versuchten zu verstehen, was geschehen war.

Nina Petrowna, wie immer gut informiert und gelassen, warf einen Blick auf David und erklärte:

– Das ist auf der anderen Seite, in eurem Müller. Dort wird jetzt ein Kolchos eingerichtet. Deshalb sprengen sie die Kirchen.

Ihre Worte schienen keine Emotionen in ihr hervorzurufen – eine alltägliche Mitteilung, nicht mehr. Doch für David klangen sie wie ein Donnerschlag.

Er erhob sich langsam und trat ans Fenster. Irgendwo in der Ferne, hinter den schneeweißen Weiten der Wolga, stiegen graue Rauchwolken in den frostigen Himmel auf.

– Kirchen? – wiederholte er ungläubig.

Nina Petrowna nickte.

– Was hast du erwartet? Dort beginnt ein neues Leben, ohne den Pfaffennebel.

David ballte die Fäuste. Etwas Schweres und Schmerzhaftes stieg aus den Tiefen seiner Seele empor. Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder der Kirchen auf, die er aus seiner Kindheit so gut kannte. Die hohen Türme, die in den Himmel ragten, die gotischen Fenster, die das Sonnenlicht reflektierten, der Duft von kaltem Stein und Wachs im Inneren. Das waren nicht einfach Gebäude. Das waren Marksteine der Erinnerung seines Volkes, Zeugen ihrer Arbeit und ihrer Hoffnungen.

– Aber was können die Gebäude dafür? – entfuhr es ihm unerwartet laut. Er selbst war überrascht von seiner Kühnheit. – Man hätte daraus ein Büro oder einen Klub machen können.

Nina Petrowna warf ihm einen prüfenden Blick zu.

– Sie bedeuten zu viel, – sagte sie mit zurückhaltender Stimme. – Und was geht das dich an? Bist du etwa gläubig?

David schwieg. Was hätte er darauf antworten sollen? Nein, er war nicht gläubig. Die Versammlungen des Komsomol, die Agitation, die Geschichten von der neuen Welt – all das hatte seinen Geist erfasst. Er glaubte an die Zukunft, glaubte an seine Kräfte, aber jetzt tat es ihm dennoch weh.

Er erzählte Nina Petrowna nichts davon, dass er einst gehört hatte, wie sein Urururgroßvater Wolfgang Schmidt beim Bau dieser Kirchen sein handwerkliches Können eingebracht hatte. Man sagte, er habe persönlich die Metallstreben und -träger geschmiedet, die die Glocken hielten. David spürte, wie eine unsichtbare Verbindung zu seinem fernen Vorfahren durch die Jahrhunderte reichte. Es war ein Teil seines Erbes, seiner Wurzeln.

In der Stille, die nach den Explosionen eintrat, hörte David irgendwo in der Ferne den faulen Heulen des Winterwinds. Sein Herz war schwer, doch er hielt seine Gefühle zurück. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, als ob nichts geschehen wäre. Vor ihm lag die Arbeit, und persönliche Gedanken konnten warten.

– Und willst du nicht mal deine Mutter und deinen Stiefvater besuchen? – fragte Nina Petrowna scheinbar beiläufig David. – Uns wurde aufgetragen, die Kolchose unter unsere Schirmherrschaft zu nehmen. Aus Saratow hat man bereits Komsomolzen dorthin geschickt. Im Winter stehen sie da ohne Hab und Gut. Sie haben nicht einmal etwas, worauf sie schlafen könnten, geschweige denn etwas zu essen. Bring ihnen Mehl, Kartoffeln und ein Schweineschlachtkörper. Aus der Kleidung nimm vier wattierte Jacken und ebenso viele Paar Filzstiefel mit.

Auf Ninas Petrownas Vorschlag reagierte David mit lebhaftem Interesse. Er bemühte sich, seine Freude zu verbergen, aber die Mundwinkel hoben sich von selbst zu einem leichten Lächeln. Ihm gefiel nicht nur der Gedanke, endlich seine Mutter wiederzusehen, sondern auch, dass diese Reise etwas Bedeutendes sein würde. David mochte es nicht, untätig herumzusitzen, und die Vorstellung, nützlich zu sein, vor allem in einer Situation, in der Hilfe dringend benötigt wurde, sprach ihn an – nicht nur für Nachbarn, sondern für eine ganze Gruppe von Menschen, die mit Begeisterung gekommen waren, um ein neues Leben aufzubauen.

– Ich werde alles tun, wie Sie sagen, Nina Petrowna, – antwortete er und hob den Blick zu ihr.

In diesem Moment verweilte sein Blick unwillkürlich auf ihrem weißen Kopftuch. Leicht wie ein Spinnennetz lag es wunderschön auf ihren Schultern. Es war genau das Kopftuch, das David ihr vor einer Woche geschenkt hatte, nach Tagen voller Überlegungen, Abwägungen und Zählens seiner spärlichen Ersparnisse. An ihrem Geburtstag hatte sie ihn damals mit einem Lächeln empfangen, das Geschenk angenommen und das Tuch sofort aufgesetzt, als wäre es das Kostbarste auf der Welt.

Jetzt, als er diesen schneeweißen Schal sah, fühlte David ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass das Geschenk nicht vergessen war, dass es geschätzt wurde. Und vielleicht war es genau dieses kleine Zeichen der Aufmerksamkeit, das das Vertrauen zwischen ihnen gestärkt hatte.

– Du fährst morgen früh los, – fuhr Nina Petrowna fort. – Wir packen alles so ein, dass nichts zerdrückt oder verloren geht. Und am Abend besuchst du deine Familie. Du übernachtest bei deiner Mutter und kommst bis zum Abend des nächsten Tages zurück.

David nickte.

– Gut, dann sind wir uns einig, – fasste Nina Petrowna zusammen. – Und jetzt geh, ruh dich aus. Morgen wird ein langer Tag.

– Danke, Nina Petrowna, – antwortete er leicht verlegen und verließ das Büro, wobei er spürte, wie ihre aufmerksamen Augen ihm nachblickten…

***

Am nächsten Tag frühmorgens loszufahren, war nicht möglich. Die Deichselverbindungen hielten nur noch durch gutes Zureden. David stellte sich lebhaft vor, wie sie mitten auf der verschneiten Straße über den Fluss brechen würden und er gezwungen wäre, den Schlitten alleine auf seinem Rücken zu tragen. Es blieb nichts anderes übrig, als den Aufbruch zu verschieben. Zwei Stunden vergingen damit, die verrosteten Teile in der Werkstatt zu demontieren und neu zu schmieden.

– Jetzt halten sie ein halbes Jahrhundert, – sagte David selbstzufrieden, während er seine Arbeit betrachtete.

Der schwer beladene Schlitten mit der Hilfe für die neugegründete Kolchose erreichte den Zielort erst am frühen Nachmittag. David, der sein Heimatdorf Müller gut kannte, fand sich schnell in den Straßen zurecht. Doch das Hauptproblem war, dass die meisten Dorfbewohner noch nicht ahnten, dass eine Kolchose gegründet wurde, geschweige denn, wer sie leiten und wo das Büro eingerichtet werden würde. Viele waren von den Sprengungen der Kirchen so verängstigt, dass sie nicht einmal auf Klopfen reagierten und die Türen verschlossen hielten.

Im Winter geht die Sonne früh unter, und das Dorf versinkt schnell in Dunkelheit. David bemerkte ein Haus mit hell erleuchteten Fenstern, das sich deutlich von der verschneiten Straße abhob. Er vermutete, dass sich dort die Komsomolzen niedergelassen hatten, und er sollte recht behalten.

Die Leiterin des Stabes, eine lautstarke Frau, die offensichtlich hochschwanger war, unterschrieb den Empfang der Ladung. Drei halb betrunkene Männer warfen die Säcke und Bündel träge direkt in den Schnee. David blickte sie tadelnd an, wollte etwas sagen, doch er hielt sich zurück und winkte nur ab. Dann zog er am Zügel, und das Pferd setzte sich langsam in Bewegung, den nun leeren Schlitten mühelos durch die verschneite Straße ziehend.

Das Elternhaus fand David ohne Mühe. Er fuhr direkt bis an die Veranda, hielt das Pferd an und band es, ohne es auszuspannen, an das Geländer der Treppe. Mit Bedauern stellte er fest, dass das Holz stark verrottet war und längst hätte ersetzt werden müssen. Allerdings wusste er, dass das Sowchosepferd gehorsam war – man hätte es selbst an einen Grashalm binden können, und es hätte stillgestanden, als wäre es angekettet.

In einem der Fenster des Hauses flackerte schwach das Licht einer Petroleumlampe. David trat näher, zog sich hoch und klopfte an die Scheibe. Es gab keine Antwort. Offenbar war das Klopfen zu leise gewesen, um gehört zu werden. Also ging er um das Haus herum und trommelte laut mit der Faust gegen die Tür.

Nach einer Weile waren schlurfende Schritte hinter der Tür zu hören. Dann ertönte die mürrische Stimme des Stiefvaters:

– Wer ist da?

– Na mach schon auf! – rief David fröhlich. – Oder willst du einen Gast in der Kälte stehen lassen?

– Ist was passiert? – Detlef öffnete die Tür, schüttelte David kurz die Hand und fügte mit einer Spur von Misstrauen hinzu: – Warum so spät abends?

– Ich wurde geschäftlich in eure Kolchose geschickt, – antwortete der Stiefsohn und klopfte den Schnee von seinen Filzstiefeln. – Und dachte, ich schau zum Abschluss noch bei euch vorbei.

– Also weiß man auch bei euch schon von unserem Unglück? – murmelte der Stiefvater, fast zu sich selbst, und senkte den Blick.

– Wovon redest du? – fragte David verwundert und runzelte die Stirn.

– Von dieser verdammten Kollektivierung, – brummte Detlef und seufzte schwer.

– Warum so pessimistisch? – fragte David erstaunt und zuckte mit den Schultern. – Gemeinsam zu arbeiten ist doch sicherer. Du hast doch selbst gesehen, wie gut bei uns im Sowchos alles läuft.

In der Zwischenzeit trat Maria zu ihrem Sohn, umarmte ihn und half ihm, ohne ein Wort zu sagen, den wattierten Mantel auszuziehen. David öffnete seinen Seesack und kippte den Inhalt mit einem Lächeln auf den Tisch: eine Packung Bonbons, zwei Dosen Konserven und zwei große Stücke Haushaltsseife.

– Vielleicht könnt ihr das gebrauchen, – sagte er und reichte die Seife seiner Mutter.

– Und wie wir das können! – rief Maria erfreut aus und schlug die Hände zusammen. – Setz dich doch, ich bring dir eine Suppe.

Aus dem Nebenzimmer traten drei Stiefbrüder heraus. Ihre Blicke galten mehr den Mitbringseln Davids als ihm selbst.

– Seid ihr also schon der Kolchose beigetreten? – fragte David, während er sich an den Tisch setzte.

– Hat man uns etwa gefragt? – entgegnete Detlef empört. – Alle, die nicht einverstanden waren, hat man mit Gefängnis und Konfiszierung eingeschüchtert.

– Wovor sollten wir denn Angst haben, – warf Maria ein. – Schmiede hatten doch nie viel Land. Nur einen Gemüsegarten, und der war keine zehn Arschin groß.

– Du bist so dumm, – platzte Detlef heraus. – Wenn alle ihr Land an die Kolchose abgeben, wofür braucht man dann noch einen Schmied? Ohne eigenes Wirtschaften werden wir verhungern!

Maria stellte schweigend eine Suppe vor ihren Sohn.

 „Nur Wasser mit Kohl“, stellte David enttäuscht fest, als er den dünnen Kohlstreifen auf der Oberfläche sah. Der Tag hatte ihn hungrig gemacht.

 Maria bemerkte seinen suchenden Blick, seufzte schwer und gestand leise:

– Wir hungern wieder. Die Kartoffeln, die du uns als Saat geschenkt hast, haben wir bis zum Frühjahr nicht retten können.

 David fühlte, wie Bedauern in ihm aufstieg. Er schalt sich selbst, weil er nicht wenigstens einen Sack Gemüse mitgenommen hatte – in ihrer Kolchose gab es davon genug.

– In der Kolchose wird es euch leichter gehen, – sagte er mit fester Stimme. – Wenn die Felder zusammengelegt werden, kann man sie ohne Technik nicht bearbeiten. Und wo Eisen gebraucht wird, werden Schmiede benötigt.

Es kam keine Antwort. Niemand stimmte ihm zu, aber auch niemand widersprach. David spürte die Stille im Raum, aß schweigend seine Suppe und fühlte, dass das Gespräch missglückt war und länger dauerte, als ihm lieb war.

 Plötzlich, wie von sich selbst überrascht, stand er auf und sagte:

– Nun, ich muss wohl los.

Im Inneren hoffte David, dass sein Stiefvater ihn aufhalten, ihn überreden würde, zu übernachten. Dass die Stiefbrüder die Pferde absatteln würden und seine Mutter ihm ein warmes Bett mit weichen Daunen bereiten würde. Doch nichts davon geschah.

 Detlef erhob sich widerwillig vom Tisch, breitete die Arme aus und sagte trocken:

– Wenn du gehen musst, dann geh.

Dann zündete er sich eine Zigarette an, zog sich seinen Pelzmantel über und trat in den Flur, ohne David eines Blickes zu würdigen.

 Maria schaute ihren Sohn ratlos an. Sie schwieg, doch ihr Blick verriet Ohnmacht. Ein schwerer Seufzer ließ erkennen, dass sie in diesem Haus nichts zu sagen hatte.

 David spürte eine bittere Enttäuschung, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er wollte seine Mutter umarmen, ihre warmen Hände spüren. Doch stattdessen klopfte er ihr unbeholfen auf die Schulter.

– Auf Wiedersehen, – sagte er mit gefasster Stimme und trat hinaus in die Kälte.

Das müde und durchgefrorene Pferd setzte sich im Trab in Bewegung und zog den Schlitten von dem Haus fort, das einst Davids Herz so nahe war. Der kalte Wind kroch ihm in den Kragen, doch er konnte seinen Blick nicht von dem Haus abwenden, das in der Ferne verschwand.

 Nach wenigen Minuten erreichte er das Ufer der Wolga. Der Himmel über ihm glitzerte mit tausenden Sternen, als hätte jemand kostbare Edelsteine auf schwarze Seide gestreut. Das weiche Licht des Vollmondes spiegelte sich auf den schneeweißen Hügeln und ließ die Nacht wie von selbst leuchten. In solch einer Winternacht konnte man Meilen weit sehen – die ganze Umgebung lag wie auf einer Handfläche vor ihm.

Plötzlich durchbrachen Schüsse die Stille. Das Pferd wieherte erschrocken und riss aus. In einem Augenblick wurden die Schlitten auf das verschneite Eis des Flusses hinausgeschleudert. David drehte sich hastig nach dem Lärm um – hinter ihm, irgendwo in der Nähe des Dorfes, ertönte das Gelächter betrunkener Komsomolzen.

 Und dann, wie eine Antwort auf das Chaos, hörte er vom Ufer einen herzzerreißenden Mädchenruf:

– Vater, was hast du uns angetan?!

David zog die Zügel an, und das Pferd hielt gehorsam an, bis zu den Knöcheln im weichen Schnee versinkend. Ohne zu zögern sprang der junge Mann vom Schlitten und eilte zu der Stelle, von der der Schrei kam.

 Als er näher kam, erkannte er unter einem kahlen, verzweigten Baum vier in dunkle Kleider gehüllte Gestalten. Sie standen schweigend da, wie Statuen.

– Was ist passiert? – fragte David auf Deutsch und versuchte, sanft zu sprechen, um sie nicht zu erschrecken. – Kann ich euch helfen?

 Die Antwort war nur ein gedämpftes Schluchzen.

– Amalia? – David erkannte eines der Mädchen. Es war die Näherin, die er ein paar Mal zuvor gesehen hatte. – Ich bin David, der Sohn des Schmieds. Du hast meiner Mutter damals geholfen, ein Kleid umzunähen.

 Das Mädchen hob den Kopf, ihre Augen glänzten vor Tränen.

– Guten Abend, David, – flüsterte sie kaum hörbar, zitternd am ganzen Körper.

– Was für ein verdammter Abend! – empörte er sich und trat näher. – Was macht ihr hier, bei dieser Kälte

Amalia. Ein Schrei über der Wolga

Der Geburtstag von Amalia fiel auf einen heißen Montag, den 19. September 1910 – eine Tatsache, die ihre Mutter ihr Leben lang gerne erinnerte.

Am Vorabend, trotz des Verbots ihrer strengen katholischen Mutter Anna-Rosa, ging Maria-Magdalena mit ihrer Schwiegermutter zum Gottesdienst in die lutherische Kirche im Wolgadorf der deutschen Siedler Müller. Der Pastor überzeugte die schwangere Frau, dass es nicht nur erlaubt, sondern notwendig sei, den Tempel Gottes zu besuchen, um dem Allmächtigen für das Geschenk neuen Lebens zu danken, dessen Herz unter ihrem Herzen schlug.

Und am nächsten Morgen, zu Beginn der Arbeitswoche, gebar Maria-Magdalena. Es schien symbolisch, dass die Neugeborene Amalia genannt wurde – schließlich bedeutet dieser altgermanische Name „die Fleißige“. Doch die Geschichte des Namens war viel komplexer.

Die Großmutter, Anna-Rosa, bestand darauf, dass das Mädchen den katholischen Namen Amalia trug. Ihr Schwiegersohn Georg, ein überzeugter Lutheraner, stritt nicht dagegen. Er war überzeugt, dass der Name gemäß dem kirchlichen Heiligenkalender und den Patronen gewählt worden war. „Nun, der Name ist gut“, dachte er, und die Frage war damit erledigt.

Doch Anna-Rosa sah in diesem Namen mehr. Fast zwei Jahrzehnten später, auf ihrem Sterbebett, gestand sie ihrer Enkelin ein Geheimnis. Ein Priester der katholischen Kirche hatte ihr einmal eine andere, lateinische Bedeutung des Namens Amalia verraten – „würdiger Gegner“.

Anna-Rosa konnte ihrer Tochter Maria-Magdalena weder die Heirat mit dem Lutheraner Georg Leis noch ihren Abfall vom katholischen Glauben verzeihen. Doch sie sah in Amalia eine Chance, alles zu korrigieren. Die Erziehung ihrer Enkelin im katholischen Geist wurde für sie zu einer persönlichen Mission. Dafür, nach dem Tod ihres Mannes, zog sie in das Haus ihres Schwiegersohnes, des Lutheranen, in der Hoffnung, dass die Zeit und ihre Bemühungen ihre Wirkung zeigen würden.

Georgs Mutter, Emma, ahnte vielleicht von den Plänen ihrer Schwiegertochter, die diese nicht einmal verbarg, doch sie nahm sie nicht ernst. Der Prediger der lutherischen Kirche versicherte, dass gemäß der Dogmen ein Katholik ein Evangelist (so nennt man offiziell die lutherischen Protestanten) werden konnte, aber die Umkehr war unmöglich. Daher nahm Emma es völlig ruhig hin, dass ihr Sohn eine Katholikin heiratete.

Außerdem hatte Emma, ohne es zu merken, ziemlich liberale Ansichten, ohne überhaupt zu wissen, was dieses Wort bedeutete. Lange vor der Hochzeit ihres geliebten Sohnes erklärte sie öffentlich, dass sie jede Schwiegertochter, unabhängig von Herkunft und Glauben, akzeptieren würde: „– Auch wenn es eine Frau aus den kirgisischen Steppen oder aus dem fernen Japan ist. Hauptsache, sie macht Georg glücklich.“

Noch dazu war Emma bereit, sich sogar mit der schlimmsten, ihrer Meinung nach, Variante abzufinden – falls ihr Sohn eine Russin heiraten würde.

– Hoch sei Gott bewahrt!, – betete sie, als sie sich so etwas nur vorstellte. Denn in diesem Fall müsste Georg nicht nur das Elternhaus verlassen, sondern auch aus dem deutschen Dorf fortziehen.

Die Zaren-Gesetze für die Umsiedler waren streng: Die Kolonisten schworen, diese zu befolgen, sobald sie russisches Land betraten. Eines dieser Gesetze verbot es, Orthodoxe zu einer anderen Religion zu bekehren, unter Androhung harter Strafen. Muslime zum Christentum zu bekehren war hingegen erlaubt, aber Orthodoxe – auf keinen Fall.

Emma hatte noch nie von gemischten russisch-deutschen Ehen gehört, auch ihre Eltern nicht. Doch sie ahnte, dass Georg, wenn er eine Russin heiraten würde, zur Orthodoxie übertreten müsste. In jener Zeit war es unvorstellbar, mit einer russischen Frau verheiratet zu sein und gleichzeitig Lutheraner zu bleiben: Eine Trauung und Taufe der Kinder war nur unter der Voraussetzung erlaubt, dass beide Eheleute denselben Glauben und ihre Familien teilten.

Ehrlich gesagt, seufzte Emma mit Erleichterung, als Georg lediglich eine Katholikin in das Haus brachte. Zumal Maria-Magdalena selbst den Wunsch äußerte, zum lutherischen Glauben überzutreten. Und als sich herausstellte, dass sie zudem eine freundliche, fleißige und reinliche Schwiegertochter war, war Emma endgültig überzeugt: Der Glaube war nicht das Wichtigste. Er sollte den Menschen helfen zu leben und zu lieben, nicht Hindernisse auf ihrem Weg zu errichten.

Amalias Großvater, Johann Leis, war ein Mann von seltener Fertigkeit: Bauer, Zimmermann, Maurer, und im Alter hatte er sich auch noch dem Weinbau zugewandt. Er entwarf und baute das Haus, in dem später Amalia geboren wurde. Es war ein solides, vierzimmeriges Haus, das aus grobem Naturstein gebaut und mit einem Holzdach bedeckt war.

Hinter dem Haus standen ein großer Scheunenschuppen und ein geräumiger Stall für das Vieh. Der Garten des Hausherrn erstreckte sich bis zum Fluss, hundert Meter weit, gespickt mit unzähligen Beeten und einigen Apfelbäumen. Direkt am Ufer, an einem steilen Hang, hatte Johann in seiner besten Zeit ein geräumiges Kellergewölbe gegraben.

Dieses Kellergewölbe war ein wahres Meisterwerk, unterteilt in drei Teile. Der erste war ein Eiskeller, in dem das ganze Jahr über schwere Eismengen aufbewahrt wurden, die im Winter am Fluss geschlagen wurden. Der zweite war ein Vorratsraum für Gemüse. Der dritte war ein kleiner, gewölbter Raum, ebenfalls aus dem gleichen Naturstein gemauert. Hier, wie Johann selbst sagte, reifte sein Selbstgebrannter.

Johann wurde nicht nur von den Nachbarn und Kolonisten beneidet. Russischen Bauern aus den umliegenden Dörfern kamen extra, um sich seine Kunstfertigkeit anzusehen und von ihm zu lernen. Seine Bauten, ob Haus oder Keller, wurden zu einem Symbol für die Arbeitsamkeit und Einfallsreichtum des echten deutschen Handwerkers.

Die Familie Leis war groß und einig. Nach Amalia kamen noch fünf Töchter zur Welt: Maria, Emilia, Renata, Rosa und Anna. Neun Frauen und ein Mann. Ein Leben wie im Paradies! Durch die vielen Frauen herrschte im Hause Leis stets Sauberkeit und Ordnung. Jeder Hausbewohner war gut genährt, bekleidet und gepflegt.

Der Keller und der Dachboden quollen über vor Vorräten: Fleisch, Speck und geräucherte Wurst, getrockneter Fisch, Schweine- und Butterfett, Marmelade und eingelegtes Gemüse, getrocknete Früchte, Beeren und Pilze – alles war mit Liebe und Sorgfalt aufbewahrt. In den Truhen lagen ordentlich aufgerollte Fäden und unzählige Stoffbahnen, die eine ganze Generation einkleiden könnten.

Die Arbeit auf dem Feld – Pflügen, Säen und Ernten – fiel fast vollständig auf Georgs Schultern. Er meisterte dies tapfer, obwohl ihm von Zeit zu Zeit die Frauen halfen. In seinem Scheunenschuppen war es nie leer: Die Vorratskammern waren bis zum Rand mit Getreide, Mehl, Bohnen und Mais gefüllt.

Gedanken darüber, noch ein weiteres Kind zu bekommen, beschäftigten Georg jedoch mit Sorge. Er fühlte, dass er bereits eine große Verantwortung trug. Daher war er eher verwirrt als froh, als er erfuhr, dass Maria-Magdalena wieder schwanger war.

Doch Gott bescherte Georg diesmal das, wovon er vielleicht geträumt, aber nie zu hoffen gewagt hatte: einen lang ersehnten Sohn. Der Junge wurde Martin genannt.

– Kinder sind keine Kartoffeln, die wachsen auch im Winter, – sagte der nun stolze Vater und blickte voller Freude auf das Neugeborene. Georg wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sein Sohn heranwachsen, ihm zur Seite stehen und das Erbe weiterführen würde.

Amalia erinnert sich gut daran, wie sie zusammen mit ihren Großmüttern das alte Wiegenbett für ihren neugeborenen Bruder vorbereiteten. Obwohl, was heißt vorbereiten? Sie wischten einfach das Wiegenbett ab und legten frisch gewaschene Windeln hinein. Diese Wiege hatte kaum Zeit, Staub anzusetzen oder auszutrocknen – Kinder kamen in der Familie alle anderthalb bis zwei Jahre zur Welt.

Großmutter Emma erzählte ständig die Geschichte der Wiege. Ihr Urgroßvater, der sich nach der Umsiedlung aus Sachsen an den Ufern der Wolga niedergelassen hatte, schnitzte diese Wiege aus robustem Eichenholz. Seitdem diente sie den neuen Generationen ihrer Familie ununterbrochen über anderthalb Jahrhunderte hinweg.

Amalia kannte die Wiege bis ins kleinste Detail. An den Seiten waren kunstvolle Bäumchen, majestätische Vögel und azurblaue Blumen geschnitzt. Am Kopfende strahlte eine leuchtend rote Sonne, und am Fußende ein Halbmond, umgeben von Sternen. Auf jeder Wand prangten geschnitzte Engelchen, die den Schlaf des Babys zu bewachen schienen.

– Ein Kreuz fehlt an der Wiege, – klagte Großmutter Anna-Rosa gewohnt. – Bei uns Katholiken schnitzt man auf jeder Wiege ein Kreuz, damit Gott das Kind beschützt.

– Hört nicht auf sie, – mischte sich Großmutter Emma sanft ein und wandte sich an ihre Enkelinnen. – Man soll nicht das verehren, worauf der Herr gekreuzigt wurde.

Emma erinnerte sich an die kürzliche Predigt des Pfarrers während des Gottesdienstes:

– Das zweite Gebot auf den Tafeln des göttlichen Zeugnisses lautet: ‚Du sollst dir kein Bildnis machen.‘ Und das ist wichtiger als ‚Du sollst nicht töten‘, ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ oder ‚Du sollst nicht stehlen‘. Leider ist die Geschichte der Religionen voll von Beispielen, wo Lehren mit Aberglaube vertauscht wurden. Ein Lutheraner braucht kein Bildnis oder Kreuz. Er weiß, dass der Herr im Himmel ist, und es genügt, nach oben zu blicken, um direkt mit ihm zu sprechen.

Emma hätte ihrer Schwiegermutter diese Worte gerne erzählt, doch Anna-Rosa wollte nicht zuhören. Sie zog eine Flasche Weihwasser aus ihrer Tasche und besprengte das Wiegenbett reichlich.

Anna-Rosa war in strengen katholischen Traditionen erzogen worden und hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihre Überzeugungen im Alter zu ändern.

Manchmal, ohne es zu merken, legte Großmutter Emma ein nasses Windelchen zum Trocknen auf die Rückenlehne der Wiege.

– Willst du, dass unser Enkel Schlaflosigkeit bekommt? – rief Anna-Rosa, als sie das Windelchen nahm. Hastig machte sie das Kreuz über der Wiege und fügte hinzu: – Das ist ein schlechtes Omen!

Der mütterliche Instinkt schien den Mädchen in die Wiege gelegt worden zu sein. Schon von klein auf spielten sie mit Puppen, wickelten sie, fütterten und schaukelten sie. Es war kein Wunder, dass die alte Wiege, die in der Ecke des Zimmers stand, sie wie ein Magnet anzog. Jede von ihnen hatte regelrecht das Bedürfnis, sie zu schaukeln.

– Oh mein Gott! – erschauerte Anna-Rosa, rieb sich die Hände wie bei der Apokalypse. – Man darf die leere Wiege nicht schaukeln! Wollt ihr etwa, dass euer Bruder schwer krank wird?

Nachdem es den Kindern gelungen war, sich zu entfernen, segnete die Großmutter erneut die Wiege, flüsterte Gebete und blickte weiterhin misstrauisch darauf.

Emma, die bis zu diesem Moment geschwiegen hatte, konnte schließlich nicht mehr an sich halten. Sie trat zu ihrer Schwiegermutter, legte die Hände auf die Brust und sagte leise, aber bestimmt:

– Du musst entweder an Gott glauben oder dich bei den Wahrsagerinnen eintragen.

Anna-Rosa erstarrte. Vielleicht hatte sie sich durch Emmas Worte getroffen gefühlt, oder sie versuchte eine würdige Antwort zu finden, aber sie sagte nichts. Sie drehte sich um und wandte sich wieder an die Enkelinnen:

– Und merkt euch: Setzt euch niemals selbst in die Wiege!

Die Mädchen fragten nicht einmal „Warum“. Jede von ihnen stellte sich sofort die schrecklichen Unglücke vor, die zwangsläufig über sie hereinbrechen würden, wenn sie widersprechen würden. Die düsteren Warnungen von Anna-Rosa verliehen ihren Worten fast magische Kraft, und niemand wagte es, sie zu widerlegen.

Das Jahr 1921 wurde für viele das Ende der Welt, das Großmutter Anna-Rosa ihr Leben lang vorhergesagt hatte. Auch wenn die Erde und das Universum nicht ins Nichts verschwanden, lag doch etwas Gerichtliches, Unheilvolles in der Luft. Niemand in der Umgebung erinnerte sich an eine Ernte, die kleiner war als das Saatgut.

Und als ob das Unglück nicht genug wäre, traf eine neue Katastrophe die Bauern – die Lebensmittelabgaben. Die Bolschewiki stürmten in jedes Haus von Krivcovka und nahmen unbarmherzig das Letzte der Menschen – Lebensmittel für die hungernden Städte. Die Familie Leis blieb nicht verschont: Sie räumten die Scheune bis zum letzten Korn aus und nahmen das gesamte Vieh mit.

Maria-Magdalena, zitternd vor Verzweiflung, ging den ungebetenen Gästen entgegen. In ihren Händen hielt sie den in Windeln gewickelten jüngsten Sohn, Martin.

– Was seid ihr für Unmenschen! – rief sie auf Russisch und fiel auf die Knie. – Womit soll ich sieben Kinder ernähren?

Die Bolschewiki, streng und schweigsam, blickten sich an. Schließlich hatten sie Mitleid: Sie ließen der Familie einen Sack Mehl und ein kleines Zicklein zum Aufzuchtszweck zurück – damit die Kinder nicht ohne Milch blieben. Bevor sie gingen, warf einer von ihnen böse über die Schulter:

– Gefällt es euch nicht? Dann fahrt doch in euer Deutschland!

Aber auch diese Krümel waren nur eine vorübergehende Rettung. Das Mehl war schnell aufgebraucht, und das Zicklein entpuppte sich als Bock. Von ihm war keine Milch zu erwarten. Georg traf eine schwere Entscheidung – er musste das Tier schlachten. Das Fleisch war kaum mehr als das einer Katze, aber es blieb keine andere Wahl.

Nun ging Georg immer häufiger auf Jagd und Fischfang, in der Hoffnung, wenigstens etwas Essbares zu finden. Die Großmütter, warm eingepackt, schleppten aus dem Wald alles, was man auf den Tisch bringen konnte: Wurzeln, Beeren, sogar Baumrinde. Sie kochten einen Sud daraus, mit dem sie die Familienmitglieder versorgten. Natürlich konnte das niemanden satt machen, aber es dämpfte für eine Weile das Hungergefühl.

Im Haus wurde es stiller. Sogar die Kinder, die immer laut und ausgelassen waren, saßen jetzt schweigend, als wollten sie keine Kräfte verschwenden.

Doch Unglück kommt nie allein. Durch den Stress, die Angst und die unzureichende Ernährung ging Maria-Magdalena die Milch verloren. Der jüngste Sohn, Martin, schrie erbärmlich vor Hunger, und sein Gesicht wurde vom Anstrengung blau. Großmutter Emma, die ihren alten Gewohnheiten treu blieb, versuchte die Schwiegertochter zu überreden, den Säugling weiter an die Brust zu legen. Aber so sehr das Baby sich auch anstrengte, die Brust blieb leer. Es war offensichtlich, dass er verhungerte.

Früher trockneten die Windeln im Haus nie, sie wurden mehrmals am Tag gewechselt. Jetzt wuschen sie sie nicht mehr so oft, und der Windelwechsel erfolgte nur alle zwei Tage.

Anna-Rosa versuchte es auf ihre Weise: Sie kochte Kräutertees für Maria-Magdalena, die sie nach ihren eigenen Rezepten gesammelt hatte. Aber auch das brachte keinen Erfolg.

Vater Georg war erschöpft von seinen Suchen. Er hatte alle umliegenden Dörfer abgeklappert, in der Hoffnung, wenigstens etwas Kuhmilch für seinen sterbenden Sohn zu finden. Doch die Kühe waren längst von den Bolschewiken weggenommen worden. Schließlich hatte er in einer kalmückischen Familie, die sieben Meilen von Krivcovka entfernt lebte, Glück. Sie hatten noch Stutenmilch – das einzige, was nach der Lebensmittelabgabe übrig geblieben war, weil das trächtige Pferd kaum noch laufen konnte. Es hatte ein Fohlen bekommen und gerettet die Familie.

Nun ging Amalia meistens für diese Milch. Jedes Mal musste sie den langen Weg zurücklegen – sieben Meilen in eine Richtung. Die Kalmyken nahmen keine Bezahlung in Geld, das nicht vorhanden war, sondern tauschten. Manchmal gaben sie selbst an, was zu bringen war: gesponnene Wolle, Kleidung, Werkzeuge. Für einen Krug Milch gab es einen Hammer, eine Gabel, eine Schaufel oder Mamas Perlen.

Die Milch wurde in einer dunkelbraunen Flasche aufbewahrt, die aus einer Wodkaflasche gemacht war und im Dorf „Solowejkowska Kirche“ genannt wurde. Um Martin zu füttern, stoppte Maria-Magdalena ein Stück Stoff von der sarpinkowischen Gewebe in den Flaschenhals. Durch diese selbstgemachte Nuckelflasche trank das Kind die Milch.

Emma versuchte, den hungrigen Säugling zwischen den Fütterungen irgendwie zu beruhigen. Sie wickelte eine Prise Beeren, getrocknet oder frisch, in ein Tuch oder ein Stück Stopfstoff und machte „Süßknoten“. Martin lutschte darauf, während seine Mutter die nächste Portion Milch zubereitete.

Anna-Rosa hingegen streifte über den sandigen Waldrand und sammelte Süßholzwurzeln, die sie „Süßholzwurzel“ nannte. Die älteren Kinder kauten sie roh, und für Martin kochte Maria-Magdalena süße Wurzeln mit Thymian. Dieses Getränk nannten sie „Steppentee“.

Trotz all dieser Bemühungen hinterließ der Hunger einen unauslöschlichen Eindruck. Die Jahre der Entbehrung blieben in Martins „Knochen“ stecken. Er wuchs klein, zart und kränklich. Die hungernde Kindheit hinterließ ihren traurigen Abdruck.

Doch das war später. Jetzt, während sie auf dem Bett mit dem Sohn auf dem Arm saß, tränkte Maria-Magdalena Martin mit Stutenmilch. Sein abgemagertes, erschöpftes Körper schien fast schwerelos. Nachdem sie den Kleinen getränkt hatte, drückte sie ihn so fest an sich, als fürchte sie, ihn zu verlieren. Tränen rollten über ihre Wangen, und sie vergrub ihr Gesicht in den dünnen Windeln, flüsterte bitter:

– Du bist umsonst auf diese Welt gekommen…

Diese Worte zerrissen Amalias Herz. Sie stand abseits und wagte nicht, sich zu nähern. Konnte man wirklich über die Geburt seines Kindes klagen? Schließlich ist das Kind ein Gottesgeschenk, auch in den schwersten Zeiten. Diese Gedanken erschreckten sie, aber sie verstand nicht, dass das Schicksal sie eines Tages mit einem ähnlichen Verzweifeln konfrontieren würde.

In den hungernden Jahren schien Krivcovka ihre Seele verloren zu haben. Die Bevölkerung halbierte sich – die Menschen fielen leblos mitten auf der Straße um. Diejenigen, die noch auf den Beinen standen, mussten die verstorbenen Angehörigen vor die Tür tragen. Der Kirchenwagen, der bei jeder Kurve quietschte, sammelte jeden Abend die Leichname ein, um sie auf den Friedhof zu bringen.

Der Dorffriedhof wuchs innerhalb eines Jahres um das Doppelte. Die früher gepflegten Gräber mit Denkmälern und Zäunen gehörten der Vergangenheit an. Jetzt war die Erde hastig zugeschüttet, und es blieben nur Hügel und schief zusammengezimmert Kreuz.

Eines Tages belauschte Amalia, wie ihre Eltern mit den Großmüttern über die „Kannibalen“ im benachbarten Dorf flüsterten. Das Mädchen wusste nicht, was dieses Wort bedeutete. Sie wagte es nicht, ihre Eltern zu fragen. Sie fürchtete, einen Verweis zu bekommen. Wenn sie nicht laut darüber sprachen, hieß das, dass es für Kinder nicht vorgesehen war, es zu wissen. Später, als Erwachsene, würde sie von Kannibalismus lesen und erschüttert sein. Amalia würde ihren Eltern dankbar sein, dass sie ihr und ihren Geschwistern nichts über Menschenfresser erzählt hatten.

Diese schreckliche Zeit brach sogar die liberale Lutheranerin Emma. Sie widersetzte sich nicht mehr, als Anna-Rosa ein Kreuz über die Eingangstür ihres Hauses hing und in jedem Raum Wände mit Ikonen bedeckt wurden. Sie schwieg, als die Katholikin einen Priester einlud, um ihr Heim zu segnen.

Um dem dichten Rauch des Weihrauchkessels zu entkommen, mit dem der Priester umherging, während er jedes Zimmer ihres Hauses segnete, lief Amalia in den Garten. Von dort aus beobachtete sie ruhig, mit einem nicht kindlichen Grinsen auf den Lippen, das religiöse Ritual. Es war leicht zu erraten, dass sie nicht an das Wunder dieses Ritus glaubte.

In der Schule hatte ihre russische Lehrerin ihnen längst erklärt:

– Es gibt keinen Gott! Das sind alles Großmutters Märchen.

Und obwohl Amalia Emma und Anna-Rosa über alles liebte, hatte sie nicht vor, ihren Predigten zu glauben.

Einige Tage später stürmte die dreizehnjährige Amalia laut die Stufen der Veranda hinauf, öffnete die Tür weit und trat fröhlich vor die Familie Leis. Wie immer dünn, sonnengebräunt, mit abstehenden Ohren und zerzausten Zöpfen. Um ihren Hals schimmerte ein rotes Halstuch, das mit einer Klammer in Form von Hammer und Sichel zusammengehalten wurde.

– Jetzt ist es definitiv das Ende der Welt! – rief Anna-Rosa aus irgendeinem Grund auf Russisch. Sie hatte nicht einmal die Kraft, auf den Beinen zu bleiben.

– Ich wurde in die Pioniere aufgenommen! – salutierte Amalia fröhlich. – Wir werden die strahlende Zukunft aufbauen.

– Es steht in den Büchern, – rief die Großmutter, kniend und die Augen rollend. – Ihr werdet kein Glück mehr auf der Erde haben. Ihr werdet euch oft den eigenen Tod wünschen.

Рис.2 Amalien Jahrhundert

Der Bürgerkrieg war zu Ende, die Weißen Garden waren besiegt, aber im Wolga-Gebiet setzten zahlreiche Banden und Truppen ihre Zerstörungen fort. Unter ihnen waren ehemalige kaiserliche Offiziere, Sozialrevolutionäre, Monarchisten, Anarchisten und wer weiß noch wer – alle standen der neuen Macht der Bolschewiki entgegen, zerrissen von persönlichen Konflikten und internen Kämpfen. Das Dorf Krivcovka wechselte erneut die Herrschaft. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wofür oder gegen wen die neuen Besatzer kämpften. Vielleicht hielten sie ihre kaiserliche Treue, die es ihnen verbot, die Waffen niederzulegen. Oder vielleicht war es schon zu bloßem Raub und Gewalt geworden, ohne irgendetwas mit der Offiziersehre zu tun zu haben.

Georg interessierte sich nicht für Politik – seine Sorgen waren viel banaler. Wie es in einem Sprichwort heißt, „sieben auf der Bank“, und die Kinder mussten ernährt werden. Nicht weit vom Dorf, im Sumpfgebiet, gab es Rebhühner. Mit Netz und Schlingen bewaffnet, machte er sich noch vor dem Morgengrauen auf die Jagd. Bevor er ging, ermahnte er die Familie streng: Falls sie Gefahr spüren sollten, sollten sie sich sofort im Keller verstecken.

Das unterirdische Versteck, das von Großvater Johann gebaut worden war, war in der Tat eine Wohltat. Von der Straße und dem Haus aus war es unscheinbar – nur ein Hügel, der mit Gras und Sträuchern bewachsen war.

Maria-Magdalena wusste auch, dass es gefährlich war, tagsüber im Haus zu bleiben. Vor kurzem hatte eine verirrte Kugel das Fenster des Schlafzimmer durchschlagen und die Holzrahmen der Kinderwiege durchbohrt. Die Schutzengel hatten sie bewahrt – nur zehn Zentimeter tiefer und das Blei hätte den friedlich schlafenden Martin getroffen.

Und wieder begann das Schießen schon am Morgen. Unter dem Pfeifen der Kugeln suchte die Familie Leis hastig Unterschlupf im Keller. Dieses Mal entschieden sie sich, sich im Weinkeller zu verstecken: Durch die Tiefe und die steinerne Decke schien er der sicherste Ort zu sein. Die massive Eichentür mit dem kürzlich von Georg angebrachten inneren Riegel aus dickem Eisen vermittelte zusätzliches Sicherheitsgefühl.

Nachdem sie die Großmütter und Kinder auf den Regalen und Kisten platziert hatte, überprüfte Maria-Magdalena noch einmal sorgfältig, ob der Riegel fest geschlossen war.

Die Schießerei ließ erst gegen Mittag nach. Im Keller, als auf Kommando, ertönte lautes Kindergeschrei – seit dem Morgen hatte keines der Kleinkinder gegessen. In ihrer Eile hatten die Erwachsenen vergessen oder es nicht geschafft, etwas zu essen mitzunehmen. Maria-Magdalena, Mutter von sieben hungrigen Kindern, seufzte: Es gab keine Wahl – sie musste in den Garten gehen, wenigstens etwas Rettich, Zwiebeln oder Gurken sammeln.

Im völligen Dunkeln stieg sie tastend die steilen Stufen hinauf und hielt vor der massiven Eichentür an. Im Keller hielten alle den Atem an. Man hörte, wie Maria-Magdalena tief durchatmete, als wollte sie die Angst vor dem vertreiben, was sie draußen erwarten könnte. In völliger Stille hörte man ihre kurze Gebetsformel. Der Riegel knarrte, die Tür öffnete sich einen Spalt, und für einen Augenblick drang Sonnenlicht herein und erleuchtete die angespannten Gesichter derer, die im Versteck geblieben waren und sie mit ihren Blicken begleiteten.

Maria-Magdalena wurde lange erwartet, doch sie kam nicht zurück. Im Keller wuchs allmählich die Besorgnis. Nur die Großmütter und Amalia versuchten, ruhig zu bleiben. Die anderen Kinder, erschöpft vom Hunger, weinten wie Welpen und bettelten nach Brot.

Amalia, als ältere Schwester, übernahm die Verantwortung, die Kleinen zu beruhigen. Sie sang leise Lieder, erzählte Märchen und bat sie, durchzuhalten, versprechend, dass die Mutter bald zurückkehren und alle satt machen würde. Gleichzeitig versuchte sie, die Großmütter zu unterstützen, die angesichts der Sorge um ihre Tochter und Schwiegertochter kaum Ruhe fanden.

Stunden vergingen, doch Maria-Magdalena tauchte nicht auf. Die Situation wurde unerträglich. Schließlich, da sie dachten, dass sie nicht länger warten konnten, schlich sich die Familie vorsichtig aus dem Keller. Leise, in einer Reihe, schritten sie zwischen den Beeten in Richtung Haus. Es herrschte eine angespannte, bedrückende Stille.

Im Haus lag der scharfe Geruch von Zigarettenrauch. Die Strahlen der untergehenden Sonne, die durch die halb durchsichtige Luft brachen, beleuchteten die schwebenden Rauchschichten. Es schien seltsam – denn niemand in der Familie rauchte. Auf dem Tisch standen chaotisch Gläser, daneben lag eine leere Fünf-Liter-Flasche aus Branntwein, Reste von grünem Lauch und angebissene Gurken.

Maria-Magdalena fand man im Schlafzimmer. Sie saß am Rand des Bettes, eingehüllt in Fetzen ihrer zerrissenen Kleidung. Ihr dichtes, immer ordentlich geflochtenes Haar hing nun zerrissen zur Seite, halb geöffnet. Ihre Hände und ihr Oberkörper waren mit blutigen Flecken bedeckt, und sie drückte ein blutbeflecktes Kissen an ihren Bauch. Die schneeweiße Bettdecke war mit hellen roten Flecken übersät.

Ihr Blick war leer, als sei er in einem unsichtbaren Punkt auf dem Boden versunken. Ihre Lippen flüsterten kaum hörbar: – Wie weh… Oh Gott, wie weh…

Ihre gesenkten Schultern zitterten vor leisen Schluchzern.

– Malia, hol die Kleinen hier raus, – sagte eine der Großmütter fest und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

– Wartet uns in der Küche, – fügte die andere hinzu und schloss entschlossen die Tür des Schlafzimmers hinter den Kindern.

Die kleinen Schwestern und Martin, als hätten sie gespürt, dass ein großes Unglück über das Haus hereingebrochen war, verhielten sich still wie Wasser, tiefer als Gras. Keines der Kinder dachte an den Hunger. Alle saßen schweigend da, versunken in ihre kindlichen, aber bereits beunruhigten Gedanken.

In diesem Moment wollte Amalia sie alle verzweifelt umarmen, sie fest an sich drücken, wie es ihre Mutter getan hatte, und jeden von ihnen auf die Stirn küssen, um zu sagen, dass alles gut wird. Aber sie hielt sich zurück. Sie fürchtete, dass die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, jetzt hervorbrechen würden, und dass sie dann die neu gewonnene Ruhe verlieren würde, die sie für sie zu bewahren versuchte.

Die ältere Schwester richtete nur leise und fürsorglich die weiche, wellige Ponyfrisur auf Martins Stirn. Der jüngere Bruder schlief auf der Bank, zusammengerollt wie ein kleines Bündel, als wollte er sich vor der ganzen Grausamkeit dieser Welt verstecken, und legte seinen lockigen Kopf in ihren Schoß.

– Wie unpassend du geboren wurdest… – flüsterte Amalia, wiederholte die Worte ihrer Mutter. Aber im Gegensatz zu ihr klang in ihrer Stimme nicht der Vorwurf, sondern eine traurige Weisheit, die zu ihr früher als erwartet gekommen war. Es schien, als sei sie plötzlich erwachsen geworden und wusste klar: Das Leben würde nie wieder dasselbe sein.

Nach einer Weile hasteten die Großmütter, liefen im Haus umher. Mal holten sie Wasser, mal suchten sie nach einem Waschbrett. In ihren hastigen Bewegungen war eine angespannte Nervosität und unbestimmbare Besorgnis zu spüren.

Plötzlich berührte kalte Luft die Gesichter der Kinder – es war Großmutter Emma, die ihnen Eisstücke, in ein altes Handtuch gewickelt, vorbeibrachte. Es schien, als zitterten selbst die Wände des Hauses vor dem eisigen Atem, der von draußen hereinkam.

Dann versank alles wieder in Stille. Nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhren erinnerte abrupt an die Zeit, die wie langsamer lief und die Momente der Ungewissheit dehnte.

Amalia hatte früher nicht gewusst, dass man im Sitzen schlafen kann. Bisher hatte sie das nie tun müssen. Es stellte sich heraus, dass es möglich war, obwohl der ganze Körper danach schmerzt und jeder Knochen schmerzt. Wahrscheinlich war es dieses Unbehagen, das sie geweckt hatte.

Draußen war es kaum Tag. Wären die Hühner noch auf dem Dorf, hätten sie sicherlich in diesem Moment den Beginn eines neuen Tages verkündet. Aber sie waren längst gegessen worden. Andere Vögel – Nachtigallen und Lerchen – schienen verschwunden zu sein, erschrocken vom kürzlichen Knallen der Schüsse, und hielten ebenfalls Stille.

Versuchend, ihren kleinen Bruder nicht zu wecken, schlich Amalia vorsichtig aus unter seinem Kopf und schob statt ihres eigenen Knies den Rucksack ihres Vaters unter. Wahrscheinlich hatte ihn jemand vom Hof hereingebracht.

– Papa ist zurück! – dachte das Mädchen. Überglücklich rannte sie ins Elternschlafzimmer, ohne darüber nachzudenken, was sie dort finden könnte.

Auf dem frisch bezogenen, schneeweißen Bett, in weiß gekleidet, lag Maria-Magdalena. Ihr Gesicht wirkte friedlich, als hätte sie einfach geschlafen, aber die Stille im Raum war unheilvoll. Auf beiden Seiten des Bettes saßen die Großmütter auf Stühlen, unbeweglich wie Statuen. Ihre Blicke wanderten von Maria-Magdalenas Gesicht hin zu nichts, unfähig, der Realität zu begegnen.

Am Fußende des Bettes, auf den Knien, krümmte sich Georg. Seine Schultern hoben sich schwer, er schluchzte und drehte nervös seine Mütze in den Händen.

– Es tut mir leid… es tut mir leid… – wiederholte er immer wieder zwischen seinen Tränen, als spräche er gleichzeitig zu seiner Frau und zu sich selbst.

– Mama! – schrie Amalia, als sie diese Szene sah. Plötzlich verblasste alles um sie herum. Der Raum wirbelte wie in einem Sturm, und das Mädchen, das das Bewusstsein verlor, fiel direkt neben die mit Moorerde befleckten Stiefel ihres Vaters zu Boden.

Später würde man ihr erklären, dass ihre Mutter an zwei Messerstichen in den Bauch gestorben war…

In tiefer Trauer feierte die Familie sowohl die neun Tage, als auch die vierzigsten Tage und den Jahrestag des Todes von Maria-Magdalena. Doch die Zeit schien stillzustehen, und mit ihr auch das Leben im Haus. Statt der Wärme und des Komforts, die sie gebracht hatte, herrschte für immer Halbdunkel und Kälte in den Wänden. Auch wenn die Lampen weiterhin brannten und der Ofen nach wie vor geheizt wurde, blieb die Atmosphäre drückend. Das fröhliche Kinderlachen war längst verklungen, und es schien, als sei mit ihm auch die Freude selbst verschwunden.

Der Vater suchte Trost in der Arbeit. Von frühmorgens bis spätabends konnte man ihn auf dem Feld oder im Stall finden, und oft blieb er dort über Nacht. Das Haus, mit jedem seiner Details, erinnerte ihn unerträglich an Maria-Magdalena.

Die Großmütter Emma und Anna-Rose, die in ihrem Schmerz gesenkt waren, trugen nun ständig Trauerkleidung. Ihre unbeschreibliche Trauer über den Verlust verband sie, und sie umgaben die Enkel mit doppelter Fürsorge. Doch Amalia sah nie wieder auch nur den Hauch eines Lächelns auf ihren Gesichtern.

Der Tod von Maria-Magdalena hatte endgültig die früheren Differenzen zwischen der lutherischen Emma und der katholischen Anna-Rose zerstört. Ihr Streit über den Glauben machte Platz für ein stilles, tiefes Verständnis, sodass es schwer vorstellbar war, dass sie sich einst gestritten hatten. Und am Ende, als ob auch hier eine verborgene Verbindung existierte, verließen sie diese Welt fast gleichzeitig, als ob der Tod sie nicht einmal trennen konnte.

Nach dem Tod der Großmütter lastete die ganze Last des Haushalts auf den Schultern des kinderreichen Vaters. Amalia, die älteste Tochter, tat alles, um ihm zu helfen, aber es war nicht genug. Anstatt sich in der Sorge um das Haus und die Familie zu vereinen, brach Georg zusammen. Vieles war ihm einfach zu viel.

Immer häufiger ging er in die Kneipe und kam betrunken nach Hause. Amalia wartete geduldig auf seine Rückkehr, half ihm, sich auszuziehen, und legte ihn ins Bett. Georg leistete keinen Widerstand, fügte sich still seiner Tochter, als wäre er ein Kind, dem der Wille verloren gegangen war. Dann schlief er ein, fiel in einen tiefen, vergesslichen Schlaf, in dem er vielleicht für einen Moment Ruhe fand.

Amalia hatte sich gerade auf der Bank unter dem Fenster niedergelassen, um ihre Strümpfe zu stopfen, als Georg plötzlich unerwartet erwachte. Er stieg aus dem Bett, ging zu seiner Tochter, streichelte sanft ihren Kopf und setzte sich schwer neben sie. Sein Gesicht war abgemagert, und seine Augen waren voller Qual.

– Ich habe deine Mutter getötet, – sagte er leise, aber so, als ob jedes Wort ihm schmerzlich schwerfiel.

Amalia sprang erschrocken auf, ließ ihre Strümpfe und Nadel fallen. Der Fingerhut klirrte auf dem Boden und rollte unter den Tisch.

– Was redest du da? – flüsterte sie, versuchte, ihre Stimme nicht zu erheben, damit die Jüngeren nicht aufwachten. – Hoffentlich hören die Kinder das nicht! Geh lieber wieder schlafen.

Georg rührte sich nicht, sein Blick war leer.

– Sie wäre noch am Leben, wenn ich damals, der Idiot, zugestimmt hätte, nach Amerika zu gehen, – fuhr er fort, als hörte er seine Tochter nicht.

Amalia seufzte, setzte sich vorsichtig neben ihn und umarmte ihn.

– Wer konnte das nur voraussehen? – antwortete sie leise und versuchte, ihn zu trösten.

Georg schüttelte den Kopf.

– Dein Onkel Heinrich hat mich gewarnt, – murmelte er, als spräche er mehr mit sich selbst.

Von ihm roch es nach Alkohol, aber in seinen Worten klang eine seltsame Klarheit, als ob sein Gedächtnis nüchtern geblieben wäre.

– Unmittelbar nach der Revolution drängten die Agenten des Umsiedlungskomitees in die deutschen Siedlungen an der Wolga, – begann Georg, seine Stimme war leise, aber von Bitterkeit durchzogen.

 Amalia hörte schweigend zu und betrachtete das Gesicht ihres Vaters, als versuche sie, die Spuren einer längst getroffenen Entscheidung zu finden, die vielleicht ihr Schicksal verändert hatte.

– Sie werben dafür, dass unsere Leute in die USA auswandern, – fuhr Georg fort. – Es war kein Geheimnis, dass diese Agenten die Interessen der Bremer und Hamburger Dampfschifffahrtsgesellschaften vertraten. Ach, wie sie damals an uns, den Dummköpfen, ordentlich verdient haben, indem sie die Leute über den Atlantik transportierten. Unter den Werbern waren auch Söldner amerikanischer Landbesitzer. Sie brauchten Arbeitskräfte, um ihr riesiges Land zu bearbeiten.

 Amalia nickte, versuchte sich die Versammlungen vorzustellen, von denen ihr Vater sprach.

– Bei uns zu Hause war so viel los, dass wir die Bänke vom Gartenzaun reinholen mussten, – fuhr Georg fort, den Blick senkend. – Neben mir saßen Vater Johann und dein Onkel Heinrich.

 Er seufzte schwer, als ob er das Gewicht jener Entscheidungen wieder spürte.

– Der Agent war geschickt, er lächelte jedes Kind an und verteilte Lebkuchen, – Georges Stimme wurde schärfer, aber eher bitter als zornig. – Er war gut vorbereitet, wusste, wie er anfangen sollte. Mit süßen Worten und Versprechungen, genauso wie mit den Lebkuchen.

– Unser Agentur, – erklärte der Agitator. – hat Büros in Saratow, am Umschlagpunkt in Eitkun und natürlich in Amerika, – begann der Mann mit gepflegtem Gesicht und blickte mit einem Rundum-Blick auf die Versammlung. – Auf der gesamten Reise garantieren wir Ihnen Informations- und rechtliche Unterstützung, eine sichere Überfahrt auf dem Dampfschiff, eine Unterbringung und die besten Perspektiven für Bauern und Handwerker.

 Seine Worte klangen sicher, aber die Hälfte von dem, was er sagte, war für die meisten Anwesenden unverständlich. Selbst die Kinder, die vor kurzem noch mit Appetit ihre Kekse gegessen hatten, saßen jetzt still, fast wie verzaubert.

– Gibt es Fragen? – fragte der Agent und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

– Wo befindet sich dieses Eitkun? – fragte als erste Großmutter Emma, die Stirn gerunzelt.

– Ist es wahr, dass alle auf dem Schiff seekrank werden? – fragte schüchtern Heinrichs Frau, während sie ihr Kopftuch zurechtrückte.

 Der Agent schien auf eine solche Wendung vorbereitet und versuchte zu antworten, aber wie eine aufgebrochene Dammbrücke, stürmten Fragen von allen Seiten herein:

– Was kosten die Tickets?

– Wie viel Gepäck darf man mitnehmen?

– Was für Geld gibt es in Amerika und kann man dort Rubel umtauschen?

 Jemand sprang auf, um zu fragen, ein anderer, der die Antwort hörte, plumpste missmutig wieder auf die Bank zurück. Die Dielen knarrten laut, als Bänke und Stühle verschoben wurden. Jede Bemerkung wurde von einem Geräusch begleitet, als hätten alle im Raum beschlossen, ihre Bedeutung mit lautem Getöse zu beweisen.

 Der Agitator versuchte zu lächeln, doch die Spannung in seinem Gesicht verriet, dass der Strom der Fragen und der Lärm selbst seine Geduld zu erdrücken drohten…

 Georg verstummte für einen Moment, versank in Erinnerungen, dann fügte er leise hinzu:

– Aber damals hatte mich Heinrich schon gewarnt… Doch ich hörte nicht.

– Was gibt es noch zu besprechen? – unterbrach Heinrichs laute Stimme den Lärm, der durch die verschobenen Bänke und Stühle entstanden war. – Es ist doch schon klar, dass wir aus Russland fliehen müssen. Es spielt keine Rolle, was es kostet. Die Bolschewiken haben den Zar und die Regierung gestürzt, wer weiß, was sie uns noch antun werden?

– Und warum sollten sie sich für uns interessieren? – grinste Georg, während er sich zu denen hinter ihm umdrehte. – Wir haben doch nichts Schlechtes getan.

– Und wir haben nie jemandem etwas Schlechtes getan, – beugte sich Heinrich über den Kopf des Vaters zu Georg. – Aber irgendwie wurde unser Dorf schon in ein russisches umbenannt, die deutschen Schulen wurden geschlossen. Hast du das vergessen? Sieh mal, bald wird es verboten sein, sich als Deutsche zu bezeichnen, und wir müssen unsere Namen ändern.

– Verbreite nicht so viel Angst, – rief Georg gereizt, – hast du etwa auch das Gedächtnis verloren? Denk daran, wie vor dreißig Jahren die Müller schon nach Amerika ausgewandert sind.

 Der Raum verstummte plötzlich. Es schien, als ob sogar die Kinder für einen Moment den Atem anhielten und den schweren Worten lauschten. Eine so traurige Geschichte konnte man nicht vergessen.

Damals überlebten von siebzig Familien, die sich zur Auswanderung entschlossen hatten, nur vierzig den fünfjährigen Odyssee und kehrten ins Dorf zurück – jedoch nicht so, wie sie gegangen waren: zu Fuß, mit Knüppeln in der Hand, mit einem Sack auf dem Rücken und ohne einen Heller in der Tasche. Sieben von ihnen erblindeten auf dem Rückweg.

 In der Stille konnte man dieses Bild der Vergangenheit fast vor sich sehen, als ob es wieder lebendig geworden wäre. Für einen Moment schien es, als ob die Luft nach dem Staub der damaligen, harten Straßen roch.

– Aber sie sind doch nach Argentinien und Brasilien gegangen, – erklärte der Agent, und lächelte so, als ob er etwas sehr Einfaches erklärte. – Und wir bieten Ihnen Nordamerika an. Noch niemand ist von dort zurückgekehrt nach Russland.

– Und wird Ihr Komitee uns auch Land zur Verfügung stellen? – fragte Georg, die Augen leicht zusammengekniffen.

– Kostenlos geben wir nichts her, – gestand der Agitator ehrlich und zuckte mit den Schultern. – Aber es gibt günstige Kredite und Steuererleichterungen für die Landzuteilung.

– Und warum, sagen Sie, sollen wir, gute Leute, unser Land verlassen, nur um dort neues Land zu kaufen? – Georg lehnte sich vor, als versuche er, die Wahrheit direkt vom Agitator zu bekommen.

– Bei Ihnen handelt es sich nicht um privates Land, sondern um Gemeindeland, – korrigierte der Agitator Georg sachkundig. Seine Stimme wurde strenger und klang nun nach einem geduldigen Lehrer. – Übrigens, die Bolschewiken planen, dieses Land gleichmäßig unter allen Bauern aufzuteilen. Bereiten Sie sich darauf vor, dass viele Ihrer Felder an das benachbarte russische Dorf gehen. Dort ist jeder zweite ein landloser Armer.

– Niemand wird uns das Land wegnehmen, – widersprach Georg trotzig und schlug mit der Faust auf das Knie. – Wir haben alle Papiere dafür.

 Der Agitator schmunzelte kaum merklich, aber antwortete nicht sofort. Er machte eine Pause, als ob er etwas Wichtiges sagen wollte, aber es sich anders überlegte. Es schien, als wollte er die letzten Illusionen der Anwesenden nicht zerstören.

– Sieh mal, was er sich für Gedanken macht! – sprang Heinrich, der Bruder, vom Stuhl, klopfte wütend auf die Rückenlehne der Bank. Sein Gesicht war rot, und seine Stimme war voller Empörung. – Vater, vielleicht solltest du ihm erklären, dass der Zar mehr Papiere und Urkunden hatte als er. Und was nützte es? Sie haben den Zaren und seine Minister genauso verjagt wie Hunde.

 Der alte Johann, der in der Ecke saß, hob den Kopf und wischte langsam mit einem Tuch seine Augen ab, die schon lange keine Tränen mehr halten konnten.

– Wir müssen zusammenhalten, – sagte er mit gepresster Stimme, als antwortete er nicht nur seinem Sohn, sondern der ganzen Familie Leis.

 Der Agitator, der den zunehmenden Streit bemerkte, ergriff höflich, aber bestimmt das Wort:

– Ich bin nicht hier, um politische Fragen zu diskutieren, – machte er eine Pause, als wolle er seine Neutralität betonen. – Meine Aufgabe ist es, Ihnen nur die Vorteile der Umsiedlung zu erklären und Ihnen bei der Bearbeitung der erforderlichen Papiere zu helfen.

 Nachdem er seine Rede beendet hatte, sammelte der gepflegte Mann geschickt die Broschüren und Papiere vom Tisch, legte sie schnell in seinen Aktentasche und, nachdem er sich kurz von den Gastgebern verabschiedet hatte, verließ er das Haus eilig.

– Warum sollte den Bolschewiken und der Armen unsere Erde interessieren? – konnte Georg nicht aufhören, und starrte seinem Bruder wütend in den Rücken. – Die einen, die städtischen Weichlinge, wissen nicht, wie man sie bearbeitet, und die anderen, die Faulenzer und Bettler, wollen sich damit nicht beschäftigen.

 Heinrich blieb im Türrahmen stehen und zögerte für einen Moment.

– Solange es noch nicht zu spät ist, – sagte er niedergeschlagen, drehte sich um und fügte hinzu – akzeptiere, Bruder. Ich fürchte, für deinen Trotz wird deine Kinder teuer bezahlen müssen.

 Georg stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust, und mit zusammengebissenen Zähnen rief er dem sich entfernten Bruder nach:

– Die Bolschewiken versprechen den Deutschen Autonomie!

 Der Bruder drehte sich nur für einen Moment um, sagte jedoch nichts. Er schwenkte nur die Hand, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben, und ging, ohne sich nochmals umzusehen, in den Hof.

 Georg blieb in der Mitte des Raumes stehen, ballte die Fäuste so fest, dass die Finger weiß wurden. In der Stille konnte man das Quietschen des Gartentors hören, und dann verflogen Heinrichs Schritte in der Ferne.

 Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, nahm der Vater sanft Amalias Hand, küsste jeden Finger und sprach mit schwerem Herzen:

– Der Herr hat uns Amerika als Erlösung gesandt, und ich habe Seine gnädige Hand abgelehnt. Ich werde mir das niemals verzeihen!

 Vom Vater roch es nach Alkohol, doch in seinen Worten war keine verschwommene Trunkenheit zu spüren. Sein Gedächtnis war klar, und der Schmerz war wahr und tief…

 Einige Tage später fand man seinen Leichnam weiter unten am Flusslauf der Wolga.

– Ein guter Mann war er, – sagte der alte Nachbar bei der Beerdigung, – nur leider konnte er mit dem Kummer nicht fertig werden.

 Mit siebzehn Jahren fiel es Amalia zu, das schwere Schicksal zu tragen, die Leiterin und Ernährerin von sechs Waisenkindern zu werden.

Die Bolschewiken hielten ihr Wort. Den Deutschen an der Wolga wurde 1927 die ASSR – die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik – gewährt. Das Dorf Krivtsovka wurde wieder Müller genannt. Die Felder, die wie nach einem langen Winter in der Erde ruhten, begannen wieder üppig zu gedeihen. Die grausame Lebensmittelabgabe wurde durch wesentlich geringere Abgaben ersetzt. Die landwirtschaftlichen Betriebe erlebten eine Wiederbelebung, nahmen an Stärke zu und entwickelten sich erneut.

Doch nicht bei den Leis. In ihrer Familie gab es niemanden mehr, der das Land bearbeiten konnte. Es fehlte an Mitteln, um Arbeiter zu beschäftigen.

Im Sommer mussten Amalia und ihre Schwestern Maria und Emilia zur Tagelohnarbeit bei wohlhabenden Dorfbewohnern gehen. Sie ernteten das Getreide, sammelten Kartoffeln und erledigten jede schwere Arbeit auf dem Feld. Im Winter rettete sie das Handarbeiten. Dank ihrer Großmutter Emma konnte Amalia seit ihrer Kindheit nähen und schneiden. Die weiße Nähmaschine in der Ecke des Zimmers wurde zu einem echten Rettungsanker. Sie nähte Kleider, Bademäntel, Hemden und Schürzen, strickte Fäustlinge, Socken und sogar warme Pullover. All das wurde verkauft oder gegen Essen eingetauscht.

Für ein Stück Brot kümmerten sich die Schwestern um fremde Kinder, wuschen Wäsche und reinigten Böden. Sogar der neun Jahre alte Martin versuchte zu helfen. Jeden Tag ging er zum Ufer der Wolga, sammelte Reisig und schleppte es unter schwerem Atem nach Hause, um den Ofen zu heizen.

Von diesem Bild wurde Amalia das Herz blutig. Aber sie redete sich ein, dass es besser war, als um Almosen zu betteln. Doch auch davor schützte sie der Herr nicht.

Anfang der dreißiger Jahre war das Wetter für die Wolga-Region gnädig. Es gab nicht zu viele Regenfälle, aber auch keine Dürre. Doch trotz alledem kam erneut Hunger. Brot war nicht zu bekommen – weder zu kaufen noch zu verdienen. Es verschwand, als hätte es nie existiert.

Die gebildeten Dorfbewohner machten die Bolschewiken und die beginnende Kollektivierung für das Unglück verantwortlich. Im Dorf Müller gab es noch keinen Kollektivbetrieb, aber viele ahnten, dass es früher oder später auch sie treffen würde.

Amalia suchte nicht nach Schuldigen. Sie zerbrach sich nur den Kopf darüber, wie sie ihre Familie ernähren konnte. Manchmal war sie so verzweifelt, dass sie den Drang verspürte, sich das Leben zu nehmen. Doch wenn sie in die erloschenen Augen der Kinder blickte, die abgemagert und erschöpft still am Tisch saßen, als hätten sie Angst, bei der Essensverteilung leer auszugehen, fand sie die Kraft, weiterzumachen.

Sie streifte durch die Felder auf der Suche nach zurückgelassenen Kartoffeln oder verlorenen Getreidekörnern. Manchmal fand sie etwas Essbares, aber häufiger nicht.

Eines Tages erzählte ihr eine Nachbarin, die die Waisen besuchen wollte, dass sie gesehen hatte, wie Renata am Sonntag mit ausgestreckter Hand an der katholischen Kirche stand, und die Zwillinge Anna und Rosa an der lutherischen. Die Nachbarin verurteilte sie nicht, da sie verstand, wie schwer es für die Waisen war, und brachte einen Beutel Hirse und ein kleines Stück Schmalz.

An diesem Abend schlug Amalia Renata zum ersten und einzigen Mal ins Gesicht.

– Ich werde nicht zulassen, dass unsere Familie sich schämt! – rief sie mit erstickter Stimme.

Renata schwieg, biss nur die Lippe zusammen und wandte den Blick ab.

Nach diesem Vorfall schien es, als seien die letzten Reste von Amalias Gefühlen erloschen. Das Mädchen mit der roten Schleife, das von einer hellen Zukunft träumte, war nicht mehr.

Bald bereute Amalia bitter ihre Tat. Der Herbst 1932 brachte einen weiteren Schock. Renata, die vom ständigen Hunger verzweifelt war, hatte bei der Scheune einige Maiskolben gefunden und aß sie ohne nachzudenken. Sie wusste nicht, dass die Körner mit Rattengift behandelt worden waren.

Das Mädchen konnte nicht gerettet werden. Noch am selben Abend starb sie in Qualen in Amalias Armen.

In Wut und Verzweiflung zerrte Amalia sich an den Haaren, weinte und umarmte den leblosen Körper ihrer Schwester. Sie beschuldigte sich selbst, die Hand gegen Renata erhoben zu haben, dafür, dass sie sie nicht beschützen konnte, für alles, was um sie herum geschah.

– Ich bin an allem schuld! – schrie sie, als sie zur Scheune rannte, wo ihre Schwester gestorben war.

Sie war bereit, den Besitzer der Scheune mit bloßen Händen zu erwürgen, doch die Nachbarn hielten sie zurück.

– Amalia, beruhige dich, es ist ein Unglück, kein böser Wille, – versuchten sie, das Mädchen zu trösten.

Aber Amalia hörte nicht zu. Es schien ihr, als stürze die Welt um sie herum ein, als hätte sie noch ein weiteres Stück ihrer Familie verloren und mit ihr auch sich selbst…

In den letzten Monaten ergriff eine wahre Tragödie das Dorf. Amalia sah fast täglich, wie Leichname ihrer verhungernden Dorfbewohner auf Schlitten an ihrem Haus vorbeigeschafft wurden. Erstarrt und in alte Lappen oder Tücher gewickelt, wurden sie zu einem überfüllten Friedhof gebracht.

Als es an der Reihe von Renata war, bat Amalia die Nachbarn nicht um Hilfe. Sie dachte nicht einmal daran. Sie wickelte den leblosen Körper ihrer Schwester in das weiße Tuch, das von ihrer Großmutter übrig geblieben war, und legte ihn auf den alten, quietschenden Schlitten.

Der Weg zum Friedhof war besonders schwer. Der Schneeboden gab nach, und der Schlitten bewegte sich kaum. Aber Amalia hielt nicht an.

Als sie das Grab ihrer Mutter erreichte, machte sie ein kleines Feuer, um den gefrorenen Boden zu erwärmen. Ihre Hände gruben mit Mühe den gefrorenen Boden, aber ihre Gedanken waren nur auf eines gerichtet: Renata sollte neben der Mutter ruhen.

Als alles fertig war, seufzte Amalia schwer und spürte nicht nur körperliche Erschöpfung, sondern auch eine tiefe Leere in sich.

Maria und Emilia blieben währenddessen zu Hause und kümmerten sich um die Jüngeren, wie Amalia es ihnen befohlen hatte. Keiner von ihnen ahnte, was ihre Schwester an diesem Tag durchgemacht hatte…

Im Haus wurde es noch stiller. Anna und Rosa, die einst die Räume mit fröhlichen Stimmen erfüllten, standen schon lange nicht mehr vom Bett auf. Ihre schwachen Körper hielten den Belastungen des Hungers kaum stand. Alle Versuche von Amalia und den verbliebenen Schwestern, die Mädchen irgendwie zu ernähren, scheiterten. Die Zwillinge konnten nicht einmal schlucken.

– Vollständige Körperdystrophie, – sprach der Sanitäter kühl und hoffnungslos, als er auf Bitten der Nachbarn ins Haus kam. – Hier hilft keine Medizin.

Ein paar Tage später verließen Anna und Rosa diese Welt. Amalia und Maria wickelten die Mädchen mit ihren eigenen Händen in die halben Laken vom elterlichen Bett. Ohne Sarg, wie auch Renata, wurden sie auf dem Friedhof beigesetzt. Diesmal wurden die Zwillinge über ihrem Vater, neben den Gräbern von Mutter und Schwester, beigesetzt.

Amalia saß lange zwischen den frischen Hügeln. Die gefühllose Stille um sie herum schien ein dumpfer Schrei zu sein, der wie ein Echo in ihrem Herzen widerhallte. Erst gegen Abend stand sie auf, um nach Hause zu gehen. Doch plötzlich versagten ihre Beine, und sie fiel auf das Grab ihrer Mutter.

Dumpfes Schluchzen brach aus ihrer Brust. Die starke, standhafte Amalia, die ihr Leben lang wie ein Felsen stand, hielt nicht mehr durch. Die Verluste, die ihre Familie nacheinander zerrissen hatten, verwandelten diesen Felsen in Sand.

Die Tränen flossen unaufhörlich und tränkten die kalte Erde. Amalia lag da, ohne den beißenden Frost, die einbrechende Nacht oder sich selbst zu spüren…

Mit 22 Jahren hatte Amalia sieben Mitglieder ihrer Familie beerdigt. Jeder Schlag des Schicksals hinterließ tiefe Narben in ihrer Seele. Es schien, als hätte sich ihr Leben in eine endlose Reihe von Verlusten und Entbehrungen verwandelt, in der jedes neue Jahr nur Leid und Verzweiflung brachte.

Mit jedem Tag fühlte sich Amalia immer erschöpfter, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Ihr Herz war hart wie Stein, nicht aus Übermaß an Kraft, sondern aus der Notwendigkeit, in einer Welt zu überleben, die keinen Platz für Schwäche ließ.

Doch selbst in ihren dunkelsten Gedanken konnte sie sich nicht vorstellen, welche noch härteren Prüfungen das Schicksal für sie bereithielt. Ihr Leben, das ohnehin schon von Verlusten zerrissen war, stand eine neue Welle erschütternder Tragödien bevor, die alles endgültig auf den Kopf stellen würde…

***

Am Abend klopfte es an die Tür. Die Wanduhren von Leis hatten sie kürzlich gegen ein paar Rüben eingetauscht – aber Amalia schaute aus Gewohnheit auf die leere Wand.

– Es muss etwa sieben Uhr sein, – dachte sie. –Wer könnte das zu so später Stunde sein?

Gäste erwarteten sie sicher nicht. Die ganze Familie saß zusammen am Tisch und trank vor dem Schlafen eine Art Tee – mit heißem Wasser übergossene, auf dem Ofen getrocknete Rübenhäute.

Während sie darüber nachdachte, dass in solch einer Kälte und bei diesem Frost keine Fremden in ihr Dorf kommen würden, öffnete Amalia – ohne zu fragen, wer es sei – die Tür. Aber diese Menschen kannte sie mit Sicherheit nicht. Als erste betrat eine Frau das Haus. Amalia hatte das Gefühl, dass sie riesig war wie ein Felsen – in einem weiten, männlichen Schafpelz und Stiefeln. Sie wurde von drei Männern begleitet, die ebenfalls winterlich gekleidet waren. Zwei von ihnen hielten Kerosinlampen in den Händen.

Amalia entdeckte das Abzeichen in Form einer Fledermaus auf dem Glas. Nicht jeder im Dorf konnte sich diese windbeständigen Petroleumlichter leisten – die aus Deutschland mitgebracht worden waren. Diese Lampen gab es nur bei den wohlhabenden Dorfbewohnern. Auch Leis hatte eine – die der Vater normalerweise beim Angeln und Jagen mitnahm. Doch im vergangenen September musste Amalija diese gegen einen Sack Maiskolben eintauschen.

Die Frau schüttelte den Schnee von ihren Schultern und Kragen – der den ganzen Tag über unaufhörlich fiel – und ging, ohne ein Wort zu sagen, an Amalia vorbei zum Tisch, an dem die drei Leis, verwirrt, sitzen geblieben waren. Dann – ohne irgendetwas zu erklären – ging sie ins Elternschlafzimmer. Amalia sah durch die Türöffnung, wie sie behutsam und sogar zärtlich die dort stehende Wiege streichelte. Danach schaute die unerwartete Besucherin ins Kinderzimmer und zuletzt in das dritte Zimmer, in dem früher die Großmütter geschlafen hatten. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, legte sie ihren Pelzmantel auf die Bank unter dem Fenster. Alle sahen ihren riesigen Bauch.

– Schwanger, – dachte Amalia – und wahrscheinlich dachten das auch ihre Schwestern.

– Lebt ihr hier zu viert?, –fragte die werdende Mutter die älteste von Leis.

Amalia nickte nur stumm.

– Nun, sammelt eure Sachen und räumt das Haus leer, – fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. – Jetzt gehört es uns.

– Warum ist unser Haus jetzt eures?, – fragte Amalia in schlechtem Russisch – nicht bereit, eine solche Frechheit zu akzeptieren und nicht glaubend, dass ihr das gerade wirklich passiert.

– Hier wird jetzt die Kolchose-Verwaltung sein.

– Warten Sie – was bedeutet Kolchose? Wohin sollen wir dann gehen?

– Das ist jetzt nicht mehr unser Problem. Also – packt eure Sachen und haut ab.

Die Frau setzte sich erschöpft auf den Stuhl, auf dem vor kurzem noch Amalia gesessen hatte. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die auf dem Tisch liegenden Zeichnungen von Martin – schob sie dann achtlos auf den Boden. Ein einfacher Bleistift rollte zu den Füßen der ungebetenen Gäste, die an der Tür standen. Einer der Männer hob ihn auf. Martin lief zu ihm und versuchte, seinen Bleistift wieder zu bekommen.

– Gib ihn her!, – bat der Junge schwach – eher als Forderung.

Stattdessen gab der grobe Mann dem Kind einen Schlag auf den Hinterkopf und steckte den Bleistift in seine Tasche.

Amalia zog Martin schnell zu sich. Die Schwestern tauschten still Blicke aus und bewerteten die Situation. Die ältere Schwester übersetzte ins Deutsche, was diese Leute von ihnen verlangten. Natürlich hätten sie sich wehren sollen. Die dünne, große Amalia hatte keine Angst davor, sich zu prügeln. Und die Schwestern waren längst keine Teenager mehr – einundzwanzig und neunzehn Jahre alt. Aber sie wussten sehr gut, dass die Kräfte ungleich waren. Gegen drei bewaffnete Männer konnten sie nichts ausrichten. Und die lautstarke schwangere Frau schien schwerer zu sein als die ganze Familie Leis zusammen. Gegen diese Leute konnten sie ihr Haus weder mit Stärke noch mit Worten verteidigen.

– Wir müssen gehen, – sagte Amalia traurig und zuckte mit den Schultern in Richtung ihrer Familie.

– Warum steht ihr dort im Türrahmen? – fragte die neue Hausherrin laut die Männer, die mit ihr gekommen waren. – Bringt unser Zeug rein. Und hängt morgen früh die Plakate an das Haus. Morgen beginnen wir, die Bauern in den Kolchos einzutragen.

Nachdem sie sich angezogen hatte, sah Amalia sich um. Es gab nichts, was sie mitnehmen konnten. Alles, was sie noch besaßen, trugen sie gerade. In den Truhen und auf den Regalen war fast nichts mehr. Der einzige Wertgegenstand war die handgekurbelte Nähmaschine. Der Tragegriff war abgebrochen, also musste sie die Maschine in einen Kartoffelsack stecken. Martin half Amalia dabei, und sie betete:

– Hoffentlich nehmen sie sie uns nicht weg!

Die Schwestern packten jeweils ein Bündel in ein Tuch.

– Beeilt euch! – drängte die schwangere Kommandantin sie.

– Ihr werdet doch selbst bald Mutter, – versuchte Amalia plötzlich, Mitleid zu erwecken, – wohin sollen wir denn gehen? Draußen ist es eisig! Selbst wenn wir im Schuppen oder Stall Unterschlupf finden, werden wir bis zum Morgen erfrieren.

– In welchem Schuppen? – stemmte die Frau ihre Hüften. – Dort wird unser Lager sein, und im Stall kommt die Kolchospferde. Geht zu den Nachbarn. Habt ihr keine Bekannten? Bestimmt nehmen sie euch auf.

– Wer wird uns aufnehmen? – bettelte Amalia mit gefalteten Händen. – Alle hungern, und wir sind vier unnötige Mäuler.

– Ich habe dir schon erklärt, Mädchen, – sagte die Frau, – das interessiert mich nicht. Ich habe einen Befehl, eine neue Parteiordnung zur Gründung des Kolchos. Euer Haus eignet sich am besten dafür. Ich kann doch nicht in einer Hütte den Hauptsitz für die sozialistische Zukunft eures Dorfes aufbauen.

Рис.3 Amalien Jahrhundert

– Vielleicht erlaubt ihr uns wenigstens, uns bei der Ofenbank niederzulassen? Wir hängen ein Vorhang auf. Niemand wird uns hören oder sehen.

– Was soll das? Dass ihr mir hier unter den Füßen herumlauft? Verzieht euch!

– So sieht also der Sozialismus aus, – dachte Amalia weinend, schulterte den Sack und fügte beim Verlassen in die Kälte hinzu, – eine helle Zukunft für obdachlose Waisen.

Draußen, den Kopf nach allen Seiten drehend und sich immer tiefer in den Kragen wickelnd, kam ihr plötzlich eine Idee. Amalia erinnerte sich an den Keller, der sie früher vor den Kugeln gerettet hatte.

Durch den tiefen Schnee eilte die Familie Leis, in einer Reihe gehend, zum Ufer der Wolga. Im Weinkeller herrschte eine erträgliche Temperatur. Es gab nichts, womit sie kochen konnten, sodass sie auch ohne Ofen auskamen. Doch hier war es feucht, und Amalia bedauerte, dass sie den Vaters Schafspelz, der immer bei ihnen hinter dem Ofen hing, nicht mitgenommen hatte. Der hätte ihnen hier sehr geholfen.

Nachdem sie den Schwestern den Auftrag gegeben hatte, eine Schlafstelle aus Holzkisten zu bereiten, fasste Amalia sich ein Herz und ging allein wieder ins Elternhaus.

Ohne auf die vier unerwünschten Eindringlinge, die am Tisch saßen, zu achten, ging Amalia schweigend zum Ofen und nahm den Pelzmantel, der dort hing. Die neue Hausherrin war so beeindruckt von diesem Mädchencourage, dass sie fast erschrak, doch sie zeigte es nicht. Ihre Gefährten blieben ebenfalls stumm.

Nachdem sie den Pelzmantel über ihren Mantel gezogen hatte, dachte Amalia einen Moment nach. Es war offensichtlich, dass sie an etwas sehr Wichtiges dachte. Nachdem sie sich mühsam zwischen dem Ofen und dem Stuhl der schwangeren Frau hindurchgequetscht hatte, zog die älteste Leis das Kinderwiege aus dem Elternschlafzimmer.

– Halt! – brüllte die Kommandantin, ohne aufzustehen, und schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin einer der Männer aufsprang und Amalia den Weg versperrte.

Bereit, alles zu tun, griff Amalia nach dem Teekessel mit heißem Wasser, hob ihn hoch und schrie wütend:

– Ich werde dich gleich verbrühen!

Und dann wandte sie sich langsam an die schwangere Frau, dabei jedes Wort betont und deutlich aussprechend:

– Die Wiege ist verflucht. Sie ist schon seit zwei Jahrhunderten in unserer Familie. Ich rate davon ab, ein fremdes Kind hinein zu legen.

Der Mann, der mit ausgebreiteten Armen vor Amalia stand, sah fragend zu seiner Vorgesetzten.

– Lass sie nehmen, – seufzte die schwangere Frau und strich sich über ihren Bauch, – zum Teufel mit diesen Deutschen!

Amalia, den Teekessel immer noch fest haltend und das Familienerbstück hinter sich herziehend, verließ stolz das Haus und schlug die Tür so heftig zu, dass die neue Hausherrin erschrocken auf ihrem Stuhl hochschreckte.

– Was für eine Kämpferin! – kratzte sich ein besonders grober Kommilitone an der Brust und sagte, als er Amalia nachsah, – muss heißblütig sein.

Er schaute beiläufig aus dem Fenster und verfolgte, in welche Richtung Amalia ging, wobei die Spuren der Wiege sich im Schnee hinter ihr zogen.

Spät in der Nacht wachte die Familie Leis im Keller vom lauten Klopfen an der Tür auf. Betrunkene Kommilitonen hatten sie dort gefunden.

– Macht auf, ihr Schlam*e! – schrien sie durcheinander und hämmerte gegen die Tür.

Im gleichen Moment ertönte ein Schuss, und die durchdringende Stimme ihrer Kommandantin übertönte die drei Männer:

– Verzieht euch sofort! Schnell ins Haus!

An den sich entfernenden Geräuschen von knackendem Schnee unter ihren Füßen konnte man erraten, dass die Männer auf ihre Chefin hörten. Laut jammernd über die Hunde, ging die Frau ebenfalls fort. Hinter der Tür wurde es still, aber in dieser Nacht konnte niemand in der Familie Leis mehr schlafen. Sie drängten sich noch enger zusammen und beteten, dass der Morgen schnell komme.

Sie mussten hier weg. Sie wussten, dass sie in diesem Moment von dieser Frau gerettet worden waren, aber früher oder später würden die lüsternen Männer wieder versuchen, ihr Ziel zu erreichen. Doch keine der Schwestern wusste, wohin sie gehen sollten. Am nächsten Tag fanden sie am Ufer der Wolga einen dicken Baumstamm und schleiften ihn in den Keller, um die bereits massiven Türen zu stützen. Sie nahmen auch schwere Holzscheite mit und bewaffneten sich damit.

So, in dem Versuch, nicht bemerkt zu werden, lebten sie mit Mühe und Not eine Woche im Keller und verschlossen immer wieder die Tür hinter sich.

Und sie fürchteten sich zu Recht. An einem Abend – es war gerade dunkel geworden – versuchten die betrunkenen Kommilitonen erneut, in ihr Versteck einzudringen. Das grobe Klopfen, unterbrochen von betrunkenem Lachen und Drohungen, riss die Stille entzwei. Doch wieder rettete sie die schwangere Vorsitzende.

Nachdem sie die Männer vertrieben hatte, klopfte sie an die Tür.

– Macht auf! – rief sie heiser, atmete schwer vor Wut und vielleicht auch vor Erschöpfung.

Amalia gehorchte.

– Wisst ihr, meine Schönen, – begann die Frau von der Türschwelle, dabei drückte sie ihren riesigen Bauch mit beiden Händen, – ich habe nicht vor, euch weiterhin von diesen Hunden zu beschützen. Ich habe meine eigenen Sorgen. Also weg mit euch, und zwar schnell.

Überzeugen musste sie sie nicht. Die Familie Leis sammelte in Sekunden ihre bescheidenen Habseligkeiten und verließ den Keller.

Am Türrahmen blieb Amalia stehen, drehte sich um und übergab der Vorsitzenden den großen Schlüssel zum Schloss.

– Na gut! – murmelte die Frau, während sie den Schlüssel in ihren Händen drehte. – Ich werde hier besonders die angetrunkenen und wilden Kerle einsperren.

Die Vorsitzende warf einen letzten Blick auf die Kinder und die schwangere Amalia und fügte leise hinzu:

– Viel Glück euch. Lebt, wie ihr es könnt, aber hier dürft ihr nicht mehr sein…

So entstand das Gefängnis im Kolchos. Jetzt riskierten die betrunkenen Kommilitonen, die früher alle in Angst versetzt hatten, im Keller eingesperrt zu werden für ihre Ausraster. Der erste, der dort eingesperrt wurde, war der Pastor der kürzlich zerstörten lutherischen Kirche. Seine Verhaftung wurde als weiterer Schlag gegen die religiöse Gemeinde wahrgenommen.

Der katholische Priester hingegen, der die Gefahr ahnte, gelang es, zu fliehen. Er verließ das Dorf heimlich, in der Nacht, und überquerte die Grenze, um Zuflucht in Preußen zu finden. Die Nachricht von seiner Flucht verbreitete sich schnell im Dorf und hinterließ eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung bei denen, die noch hofften, ihren Glauben in dieser schweren Zeit zu bewahren.

Wieder ohne Dach über dem Kopf, saßen die Reste der einst großen Familie Leis spät abends am Ufer der zugefrorenen Wolga. Der Frost war beißend, aber es gab keinen Rückweg. Maria, Emilia und Martin, bemüht, sich zu wärmen, drängten sich dicht aneinander unter dem Vaters Pelzmantel. Amalia fand darunter keinen Platz. Sie saß etwas abseits, die Hände am Rand der Wiege haltend, die sie aus dem Haus gerettet hatte.

Sie fror, ihre Zähne klapperten vor Kälte, und ihre Hände, von der ständigen Arbeit bereits wund, zitterten unkontrolliert, wobei sie die Wiege immer wieder sanft schaukelte. In ihr war alles, was von ihrem Zuhause übrig geblieben war: ein paar Pakete mit Kleidung, ein paar Lumpen und das wertvolle Muttertuch, das Amalia wie ein Heiligtum bewahrte.

Sie hob den Kopf und blickte in den Himmel, der von Millionen Sternen übersät war. Mit Tränen in den Augen lächelte sie und flüsterte:

– Keine Sorge, Anna-Rosa, – sie sprach zu ihrer verstorbenen Großmutter, als ob diese sie hören konnte, – es ist nicht leer. Alles, was von unserem Haus übrig ist, ist da.

Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolfsweibchen, doch die Familie Leis saß regungslos da, als hätte der Frost nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seelen erstarrt.

Amalias Bewusstsein wurde von einem bitteren, unerträglichen Gedanken verbrannt:

– Es hätte ganz anders sein können!

Sie drückte ihre erfrorenen Hände an ihr Gesicht, um das aufkommende Schluchzen irgendwie zurückzuhalten, doch in ihrem Kopf drehten sich weiterhin qualvolle Bilder.

– Wenn Papa nur zugestimmt hätte, mit Heinrich nach Amerika zu gehen, – tadelte sie sich innerlich, – dann hätten sie Mama nicht vergewaltigt und umgebracht. Die Großmütter hätten nicht so sehr trauern müssen. Vielleicht hätten wir noch gelebt. Papa hätte sich nicht selbst zerstört.

Ihr Blick fiel auf ihren jüngeren Bruder Martin, der sich fest unter dem Pelzmantel zusammengekauert hatte, als fürchtete er, die letzte Wärme zu verlieren.

– Wenn unsere Eltern noch am Leben gewesen wären, wären Renata, Anna und Rosa sicher nicht verhungert. – Sie schloss die Augen, versuchte, die Erinnerungen an ihre Schwestern zu vertreiben, doch stattdessen tauchten ihre blassen Gesichter und erloschenen Augen vor ihrem inneren Blick auf.

Als sie wieder den Blick zu den Sternen hob, spürte Amalia, wie der eisige Wind ihr scheinbar direkt ins Herz kroch und die letzten Reste Hoffnung hinaustrieb.

– Herr, warum? – flüsterten ihre trockenen Lippen lautlos, und nur der himmlische Frieden antwortete.

Amalia fühlte, wie der Schlaf sie allmählich verschlang und sie aus der grausamen Realität in die Welt der Träume entführte. Die Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, schien sie mit einer weichen, schwerelosen Decke zu umhüllen. Ihre Lider fielen schwer, und vor ihren Augen begannen Bilder zu flimmern, die voller Glück waren, das sie nie gekannt hatte.

Sie stellte sich vor, wie sie mit der ganzen Familie auf dem Deck eines schneeweißen Dampfers standen. Ein leichter Wind wehte ihre Kleidung, und die türkisfarbenen Wellen rollten sanft unter dem Schiffsrumpf und trugen es zu einem fernen, märchenhaften Land.

Vater und Onkel lächelten, gekleidet in feine weiße Hemden mit Umlegekragen, strenge schwarze Krawatten und lange, gelbliche Kaftane. Ihre polierten Stiefel glänzten, reflektierten das Sonnenlicht, und ihre Hüte saßen mit Würde auf ihren Köpfen. Ihre Stimmen vereinigten sich zu einem fröhlichen Lied:

  • Vor dem Fenster stehen die Kutschen vor der Tür,
  • Wir fahren mit den Frauen, mit den Kindern!
  • Wir fahren in das ruhmreiche Land,
  • Dort gibt es so viel Gold wie Sand!
  • Tru-ru-mo-mo, tru-ru-mo-mo,
  • Schneller, schneller – nach Amerika!

Neben ihnen standen die Großmütter, Mama, Tante und alle Mädchen Leis, wie lebendig gewordene Puppen in festlichen Kleidern. Die schwarzen Röcke mit roten Mustern schwingen sanft, wenn sie gehen, Händchen haltend. Weiße Hemden mit weiten Ärmeln, eine blaue Weste mit glänzenden Knöpfen und festliche Hauben machten sie wie Heldinnen aus einem alten Märchen. Weiße Perlenketten schmiegen sich eng an ihre Hälse und glänzen im Sonnenlicht.

Auf dem Deck wurden sie von Menschen in schwarzen Fracks, funkelnden Weste und schneeweißen Handschuhen umgeben. Sie lächelten freundlich und boten ihnen heißen Kaffee und feine belgische Schokolade an. Amalia lachte, als sie die Süßigkeit probierte, die sich auf ihrer Zunge ausbreitete und einen Nachgeschmack des Glücks hinterließ.

In diesem Traum gab es keinen Hunger, keinen Schmerz oder Verlust. Es gab nur Freude, familiäre Wärme und Hoffnung auf die Zukunft.

Aus diesem nebeligen Zustand des Wahnsinns riss Amalia ein scharfer, dröhnender Schuss. Er hallte durch die stille Nacht und ließ das Mädchen zusammenzucken. Ihr Blick schärfte sich sofort, und sie drehte instinktiv den Kopf in Richtung des Heimathauses. Unter den Fenstern, erleuchtet von dem schwachen Licht einer Petroleumlampe, lachten die betrunkenen Kommilitonen und die schwangere Vorsitzende laut und schienen in die Luft zu schießen, um die Gründung des Kolchoses "Weg des Iljitsch" zu feiern.

Amalia umklammerte den Rand der Wiege, und aus ihrer Brust drang ein verzweifelter Schrei:

– Vater! Was hast du uns angetan?

Der Schrei schien die nächtliche Stille zu zerreißen, aber er verschwand sofort im Wind, der ihn forttrug.

Sie schloss die Augen, versuchte, den aufkommenden Schmerz zu beherrschen, doch plötzlich spürte sie, dass jemand neben ihr stand. Amalia hob den Kopf, und vor ihr, als käme er aus dem Boden, tauchte ein Junge auf.

Trotz der schlechten Beleuchtung erkannte sie ihn sofort. Es war der Sohn des Dorfschmiedes – ein kräftiger, großer junger Mann mit klarem, entschlossenem Blick. Sein Gesicht war angespannt, doch es zeigte eine seltsame Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis.

Für die Liebe war keine Zeit

David hob den jüngsten der Familie Leis auf die Arme.

– Haut und Knochen, – sagte er laut erschrocken.

 Der Junge wog etwas mehr als ein Pfund. Der kräftige Sohn des Schmiedes ahnte nicht, dass er in diesem Moment fast seinen Altersgenossen trug. Der zwölfjährige Martin war nur zwei Jahre jünger als David.

 Nachdem er die Familie Leis auf den Schlitten geladen hatte, zog David kurz an den Zügeln, und das Pferd begann, sie mit gemäßigtem Tempo zum linken Ufer der gefrorenen Wolga zu fahren.

 Der kalte Wind peitschte ihm ins Gesicht, als David das Pferd sicher durch die verschneiten Weiten führte. Amalia saß neben der Wiege und umfasste sie mit den Armen, als schütze sie das einzige, was sie noch an ihr Zuhause erinnerte. Ihr Blick war leer, und ihre Lippen zitterten immer noch vor Kälte und Erschöpfung. Die Schwestern und der Bruder drückten sich dicht aneinander unter dem Pelzmantel, um sich zu wärmen.

– David, – sagte Amalia mühsam, –glaubst du wirklich, dass sie uns helfen werden?

Der junge Mann nickte, ohne den Blick von der Spur zu lösen.

– Nina Petrovna ist eine gute Seele. Sie wird euch nicht im Stich lassen.

In seiner Stimme lag so viel Überzeugung, dass Amalia zum ersten Mal seit langem einen Hauch von Hoffnung spürte.

Trotz der späten Stunde, zu Davids großer Freude, brannte noch Licht in den Fenstern des Sowchoz-Verwaltungsgebäudes.

– Sie schläft noch nicht! – dachte David mit Wärme im Herzen und erklärte stolz den im Schlitten Sitzenden:

– Unsere Chefin kommt immer als Erste zur Arbeit und geht als Letzte. Sie heißt Nina Petrovna.

– Nina Petrovna, – wiederholten die Leis-Geschwister im Chor.

Als sie drinnen aufbrachen, sagte David sofort:

– Wir müssen helfen! Sie sind obdachlos.

Die Leiterin der Verwaltung warf einen schnellen Blick auf die Neuankömmlinge. Wahrscheinlich erinnerte sie sich an den Tag, als David gekommen war, um sich für die Arbeit im Sowchoz zu bewerben, und hatte mit einem Lächeln freundlich gesagt:

– Wenn es nötig ist, dann helfen wir.

Nina Petrovna stand von ihrem Schreibtisch auf, auf dem sich Papierstapel türmten, und trat näher an die Familie Leis. Ihr Blick war aufmerksam, voller Mitgefühl und Entschlossenheit.

– Lass uns überlegen, wie wir sie unterbringen, – sagte sie und deutete auf das alte Sofa, das in der Ecke stand.

– Setzt euch vorerst, ruht euch von der Reise aus. Ich mache euch heißen Tee.

David flüsterte Nina Petrovna leise zu:

– Sie kommen vom linken Ufer, die Kommilitonen haben ihr Haus besetzt.

Die Frau dachte nach, während sie die Kinder ansah, die dankbar den heißen Tee tranken. Dann, offensichtlich eine Entscheidung getroffen habend, wandte sie sich an David:

– Im Familienwohnheim ist gerade ein Bett frei. Heinrich und Emilia haben beschlossen, nicht zusammen zu wohnen.

Es war schon weit nach Mitternacht, und nachdem sie die Türen der Verwaltung abgeschlossen hatte, führte Nina Petrovna die Familie Leis in das Wohnheim für Ehepaare.

Ursprünglich war es gar nicht geplant gewesen. Der Sowchoz war für Waisen gedacht: zwei Baracken für Jungen und eine für Mädchen. Über Familien hatte man nicht nachgedacht. Zu dieser Zeit war das Thema Familie wenig diskutiert, und einige Bolschewiken propagierten die sowjetische Ehefreiheit.

Doch ohne Erwachsene war es einfach unmöglich, den Sowchoz zu betreiben. Viele der Verwaltung waren bereits verheiratete Kommunisten. Solche Fachkräfte wie Ärzte, Tierärzte und Buchhalter waren ebenfalls mit ihren Familien hierher gezogen.

Wie das Leben zeigte, hatte die Idee der Ehefreiheit selbst die überzeugtesten und radikalsten Kommilitonen nicht überzeugen können. Im Sowchoz gab es die ersten schwangeren Mädchen. Die neuen Zellen der sowjetischen Gesellschaft wurden hastig registriert. Um dies zu ermöglichen, musste jemand ins Kantonszentrum nach Zelman geschickt werden, um die Formulare für die Eheschließung zu holen.

Bald wurde eine der beiden Männerbaracken vollständig in ein Familienwohnheim umgewandelt. Die dünnen Holztrennwände unterteilten den Raum in viele kleine Zimmer.

– Hier sollte ein freies Bett sein, – sagte Nina Petrovna selbstbewusst, als sie eine Zimmertür öffnete.

Drinnen glimmten die Holzstücke in einem Ofen und erleuchteten das Zimmer mit schwachem Licht. Die Bewohner waren längst in tiefem Schlaf versunken, und der Raum war erfüllt von schnarchenden und leisen Atemgeräuschen. Alle Betten waren belegt. Nina Petrovna sah sich um, ging dann zu einem Mann, der auf dem ersten Bett in der Nähe der Tür schlief, und stieß ihn sanft an die Seite.

– Hey, Besetzer, räume deinen Schlafplatz! – befahl sie streng.

Der Mann erwachte abrupt, setzte sich auf und sah verwirrt umher, ohne sofort zu verstehen, was passierte.

– Geh in deine Familie schlafen, – drängte Nina Petrovna und zeigte mit einem abfälligen Blick auf das Bettgestell. – Und vergiss nicht, deine Socken mitzunehmen!

Der Mann murmelte unverständliche Worte und holte seine Sachen, wankte dann zu seiner Familie.

So weit der Lichtschein der flackernden Lampe aus dem Flur reichte, betrachtete Amalia das Zimmer aufmerksam. Neben dem Ofen standen vier Betten entlang der Wände, jedes offenbar für eine Familie vorgesehen. Auf dem Eckbett hingen fünf Paare von Beinen – anscheinend bewohnte eine große Familie diese Ecke.

– Hier wird es euch vorerst besser gehen, – sagte Nina Petrovna und deutete auf das nun freie Bett. – Macht es euch bequem. Den Rest besprechen wir morgen.

Amalia trat als Erste in das Zimmer und hielt fest die Familienerinnerung – die Wiege – in den Händen.

– Das kommt uns im Sowchoz gerade recht, – bemerkte Nina Petrovna mit einem Lächeln und nickte auf die Wiege. – Passt auf, dass sie hier niemand einsteckt.

Die Deutsche zog überrascht die Augenbrauen hoch und antwortete leise, ohne ganz zu verstehen, was gemeint war:

– Gut. Sie ist so groß, dass sie in keinen Taschen passt.

Nina Petrovna konnte ihr Lachen nur schwer unterdrücken, indem sie den Mund mit der Hand bedeckte. Ihr Blick wurde weicher, und in ihren Augen funkelte Wärme.

Auf der einen Seite freute sich die Leiterin darüber, dass der Sowchoz allmählich mehr Menschen anzog. Die Absolventen der Waisenhäuser wurden älter, blieben, fanden Arbeit im Betrieb, und jetzt gründeten sie auch noch Familien. All dies stärkte die Gemeinschaft und verwandelte sie in eine feste Gemeinschaft.

Aber auf der anderen Seite brachten diese Veränderungen neue Kopfschmerzen. Plötzlich stellte sich das akute Problem: Was sollte mit den Kindern geschehen? Nun musste die Leitung des Sowchozes dringend Krippen, Kindergärten und Schulen organisieren.

Die Familie Leis beeilte sich, das Bett zu belegen und freute sich, dass sie wenigstens für eine Weile ein Dach über dem Kopf hatten.

Die Neuankömmlinge kamen im Sowchoz gerade recht. Maria und Emilia wurden schnell als Melkerinnen eingestellt, und Amalia bekam eine Stelle im Schweinestall.

Ihr einziges Bett im Familienwohnheim wurde für sie zum Zuhause. Später konnte Amalia sich nicht einmal mehr vorstellen, wie sie es geschafft hatten, darin Platz zu finden. Denn auf den benachbarten Betten kamen bereits neue Leben zur Welt – die Familien wuchsen.

Aber wie man sagt, enge Räume, aber kein Ärger. Im Gegenteil, diese Jahre im Sowchoz „Kuznez des Sozialismus“ werden Amalia als die glücklichsten in Erinnerung bleiben. Das Leben war einfach, aber erfüllt von Wärme und Freundschaft. Damals konnte das Mädchen aufrichtig und mit voller Überzeugung die Worte auf dem Plakat im Dorfgemeinschaftshaus unterstützen: „Das Leben ist besser geworden, das Leben ist fröhlicher!“

Im Sowchoz herrschte die Atmosphäre einer großen Familie: Hier teilte man sowohl Freude als auch Leid und unterstützte sich gegenseitig mit allem, was man konnte. Die Wiege der Leis-Familie war eine wahre Entdeckung für die lokalen Familien, und Amalia wusste manchmal nicht einmal, wo sich gerade ihre Wiege befand und welches Kind darin schlief.

Den jüngsten Leis, Martin, schickten sie in die erste Klasse der örtlichen siebensemestrigen Schule. Im Dorf Müller hatte der Junge keine Möglichkeit, an den Tisch zu setzen – damals war jeder Tag ein Überlebenskampf, und die wichtigste Lektion seines jungen Lebens bestand darin, wie man Nahrung beschafft.

Martins Klassenkameraden in der Sowchozschule ahnten nicht einmal, dass ihr kleiner, dünner Kamerad, der neben ihnen saß, tatsächlich fünf Jahre älter war als sie.

Martin wurde schnell zum Liebling des Barracks. Nach dem Unterricht in der Schule spielte er gern mit den Kindern und passte im langen Flur des Wohnheims auf die Jüngeren auf. Die rührenden Nachbarinnen dankten ihm für seine Fürsorge: Manchmal brachte jemand eine Leckerei, jemand anderes flickte seine abgetragene Kleidung.

Besonders freute sich der Junge über den alten Schuhmacher, der ihm jedes Jahr zum Geburtstag ein neues Paar Schuhe schenkte. Sandalen, Stiefel, Filzstiefel – das Geschenk war immer einfach, aber Martin betrachtete es als echten Schatz. Sogar die Tatsache, dass Martins Namenstag im heißen August lag, schmälert seine Freude nicht. Er wartete ungeduldig auf diesen Tag, mehr als je zuvor auf das Wunder des Weihnachtsbaums, an den Emilia und Maria so oft mit Wärme und Liebe erinnerten.

Aber jetzt war es im sowjetischen Gesellschaft verboten, über Weihnachtsbräuche zu sprechen. Der Weihnachtsbaum blieb nur eine Erinnerung, die dem Herzen teuer war, aber zu gefährlich, um sie in der Öffentlichkeit zu erwähnen.

Im Sowchoz diktierte das Leben seine eigenen Regeln. Es gab endlose Arbeit, von frühmorgens bis spät in die Nacht. Die Arbeit folgte auf die Arbeit, und es war einfach keine Zeit, an etwas anderes zu denken. Deshalb war es für Amalia eine echte Überraschung, als ihre Schwestern – die fünfundzwanzigjährige Maria und die ein Jahr jüngere Emilia – plötzlich heirateten.

In diesem Jahr wurde ihrem Sowchoz eine geologisch-erkundende Brigade zugeteilt. Unter den Neuankömmlingen befanden sich zwei Brüder, die, sehr zur Überraschung vieler, ihr Schicksal mit den unscheinbaren Schwestern Leis verbanden. Einige Monate später verließen die frisch Vermählten den Sowchoz und fuhren in die Stadt Engels.

Für Amalia war dieses Ereignis ein Wendepunkt. Sie schien aus einem langen Schlaf zu erwachen und dachte zum ersten Mal über ihr Leben nach, oder besser gesagt, über das völlige Fehlen eines Lebens außerhalb der Arbeit.

Offensichtlich machte sich die Erziehung bemerkbar. Amalia wusste, dass sie sich nicht einfach jedem Unbekannten nähern würde – das hatten ihre Großmütter ihr beigebracht. Sie hatten immer gesagt, dass eine Familie auf Respekt und Liebe aufgebaut wird, nicht auf hastigen Entscheidungen. Aber die Jahre vergingen, und die Suche nach diesem Einen, dem Einzigen, zog sich immer weiter hin.

Viele Jungen aus dem Sowchoz beachteten die schöne und stattliche Amalia. Doch alles blieb bei Blicken und, im besten Fall, einem oder zwei Dates. Irgendwie verloren die Verehrer schnell das Interesse an ihr. Zuerst dachte Amalia, es liege an ihrer deutschen Herkunft. Doch als ihre jüngeren Schwestern problemlos Ukrainer heirateten, erkannte sie, dass es ganz offensichtlich nicht daran lag.

Worin lag also der Grund? Amalia wusste damals selbst nicht, dass der Grund für ihre Einsamkeit jemand war, mit dem sie ihre Heimat verband – ihr Landsmann.

David wuchs vor ihren Augen. Seine Schultern wurden breiter durch die tägliche Arbeit, seine Hände wurden stärker und sein Blick selbstbewusster. Aber mit alledem wuchs auch seine Zuneigung zu Amalia. Er konnte sich keinen Tag und keine Nacht mehr ohne Gedanken an sie vorstellen. Seine Blicke blieben unweigerlich an ihren Lippen, der eleganten Linie ihres Halses und den Kurven ihres Körpers hängen. Er erwischte sich dabei, dass jede ihrer Bewegungen, jeder Blick, jedes Lächeln ihn zu verzaubern schienen, und sein Herz schneller schlug.

Ja, sie war neun Jahre älter als er und einen Kopf größer. Aber spielte das wirklich eine Rolle? In seinen Augen war Amalia unerreichbar, wie ein Stern, und zugleich seine einzige Traumfrau. In seinen Träumen sah er nur sie: wie sie gemeinsam über die grüne Wiese gingen, wie sie lachte und ihn umarmte.

Eifersucht fraß David von innen. Jeder unverheiratete Junge im Sowchoz schien ihm ein Konkurrent zu sein. Er bemerkte ihre Blicke, die heimlich auf Amalia gerichtet waren, und in ihm brannte ein Feuer. Schon der bloße Anblick von jemandem, der neben ihr stand, weckte in ihm den Wunsch, sie zu beschützen – vor allem, sogar vor dem, was nur in seinem Kopf existierte.

Die einzige Person, der er sich anvertraute, war sein Freund Achat. Aсhat war im ganzen Umkreis bekannt: ein unbesiegbarer Ringer, mit dem niemand sich anlegen wollte. David zweifelte lange, aber eines Tages erzählte er seinem Freund alles, was ihm auf der Seele lag.

Achat hörte das Geständnis und schmunzelte:

– Ich breche jedem die Beine, der sich wagt, deiner Freundin zu nahe zu kommen.

Und das war nicht einfach nur Prahlerei. Alle im Sowchoz wussten, dass Achat kein Wort ohne Taten ließ. Nach seinen Worten zogen sich die wenigen zurück, die noch versucht hatten, um Amalia zu werben. Es schien, als sei eine unsichtbare Wand um sie herum entstanden, und niemand wagte es, sich ihr zu nähern.

Amalia bemerkte natürlich, dass man sie nun anders behandelte. Um sie herum herrschte eine seltsame Leere – als ob plötzlich mehr Raum um sie herum entstanden wäre. Aber sie ahnte nicht, wer dahintersteckte. David hingegen wurde mit jedem Tag sicherer. Ihm schien, dass seine Zeit bald kommen würde…

Ich liebe – und Punkt! Wie einfach das klingt, nicht wahr? Aber Liebe ist selten einfach. Für manche ist dieses Gefühl wie ein Flug, ein Nektar, den man Schluck für Schluck trinkt, berauscht von jeder Sekunde Nähe. Sie schweben auf den Flügeln der Leidenschaft, halten ihren Geliebten in den Armen, schauen begierig in sein Gesicht, saugen den Duft seiner Haut auf, als fürchteten sie, dieser Moment könnte entgleiten.

Für andere jedoch ist Liebe wie ein Fieber, schmerzhaft und beunruhigend. Sie verstecken sich im Schatten, meiden Begegnungen, irren in den Labyrinthen eigener Gedanken umher. Fragen quälen ihren Verstand: „Was, wenn das nicht mein Weg ist? Was, wenn ich nicht wert bin? Oder er oder sie mich nicht?“ Diese Gedanken zerreißen den Kopf, das Herz schlägt schwer und unruhig, und manchmal verkrampft sich sogar der Magen vor Schmerz, als ob der Körper dem Feuer der Gefühle nicht standhalten könnte.

Liebe ist nicht nur ein Gefühl des Herzens, sondern auch des Verstandes. Es mag scheinen, als würde das Herz den Takt verlieren, wenn wir mit der geliebten Person zusammen sind, aber das ist nur ein trügerisches Signal. Wir verhalten uns wie Verrückte, aber wählen bewusst. Unsichere neigen sich zu den Selbstbewussten, Schwache zu den Starken, jene, die Halt suchen, zu den Selbstständigen. Unschöne sehnen sich nach Schönheit, und manchmal suchen Menschen das Spiegelbild ihrer selbst. Es ist eine Entscheidung des Verstandes, klar und genau wie eine wohlüberlegte Wahl, auch wenn sie in romantischen Nebel gehüllt ist.

Liebe schlägt natürlich in Herz und Blut, sie lässt uns glauben, dass ohne den anderen das Sonnenlicht nicht mehr scheint. Aber es ist kein blinder Zufall. Es ist eine Symphonie von Verstand und Gefühlen, bei der ersterer die Geige spielt, öfter als wir es wahrnehmen.

Die Liebe zwischen Amalia und David war da, aber nicht die, die in Romanen besungen oder in Filmen gezeigt wird. Ihre Gefühle entstanden nicht unter den Klängen von Serenaden oder im Schein des vollen Mondes. Sie wuchsen aus Fürsorge, täglicher Arbeit und einfacher menschlicher Unterstützung.

Amalia und David lebten unter Bedingungen, in denen das Leben keine Worte, sondern Taten verlangte. Sie hatte einen Schweinestall, der weder Wochenenden noch Feiertage kannte – ständige Geburten, Fütterung, Pflege. David hatte eine endlose Reihe von Arbeiten: mal Traktoren reparieren, mal säen, mal mähen, mal Getreide ernten. Und dennoch, trotz diesem nie endenden Kreislauf von Aufgaben, schlich sich zwischen ihnen etwas Besonderes ein.

Davids Liebe zeigte sich nicht in Gedichten oder Blumen, sondern in seinen Taten. Er teilte mit Amalia Nahrungsmittel und Geld, besorgte seltene Medikamente für ihren kleinen Bruder. Er half ihr oft bei der schweren Arbeit, selbst wenn er selbst erschöpft war.

Amalia bemerkte diese Fürsorge, aber sie erkannte ihren wahren Wert nicht sofort. Als die Arbeit auf den Feldern mit dem Sonnenuntergang endete, wartete David stets bei den Toren des Schweinestalls auf sie. Er begleitete sie bis zum Wohnheim und achtete darauf, dass ihr auf dem einsamen, dunklen Weg nichts passierte.

– Umwerbst du mich etwa? – fragte sie eines Tages lächelnd.

David, wie ein Junge, wurde sofort verlegen. In der Dunkelheit blieb seine glühende Röte unbemerkt.

– Wie kommst du auf so etwas? – murmelte er, bemüht, gleichgültig zu wirken. – Ich schreibe dir doch keine Briefe und lade dich nicht ins Kino ein. Ich will einfach nicht, dass dich auf dem Weg Hunde beißen. Siehst du, wie viele Streuner hier herumstreunen?

Dieser Satz, der mit einer aufgesetzten Gleichgültigkeit ausgesprochen wurde, blieb in Amalias Erinnerung. Sie spürte darin mehr als nur Fürsorge um ihre Sicherheit. Es war Liebe – leise, unaufdringlich, ohne viele Worte. Sie fand ihren Ausdruck in jeder Handlung, in jedem Blick. Und eines Tages verstand Amalia das.

David war natürlich nicht der perfekte Prinz, von dem Amalia in den seltenen Momenten des Träumens träumte. Er war weit entfernt von ihrem Ideal – nicht besonders groß, neun Jahre jünger als sie, noch ganz jung in den Augen einer reifen Frau. Und doch blieb seine Fürsorge und seine stetige Präsenz nicht unbemerkt.

Amalia lastete der Gedanke, David mit einer direkten Ablehnung zu verletzen. Er war ihr Landsmann, jemand, der ihr durch die schwersten Zeiten geholfen hatte. Sein gutes Herz und seine Bereitschaft, immer zu helfen, weckten ihren Respekt, selbst wenn ihr Herz nicht die gleiche Zuneigung erwiderte. Und auch die Träume von einem starken Prinzen, der sie in eine märchenhafte Zukunft entführen würde, wurden immer flimmernder.

David hingegen gab nicht auf, um ihr Herz zu erobern. Er drängte sie nicht, stellte keine Forderungen, aber er zog sich auch nicht zurück. Seine ruhige, unaufdringliche Präsenz wurde für Amalia zu etwas Gewohnem, wie ein Sonnenstrahl, der durch den Morgennebel bricht.

Eines Tages, in einem seltenen Moment der Ruhe in ihrem endlosen Arbeitsstrom, sprach er das Wichtigste an:

– Ich werde warten, bis du bereit bist, meine Frau zu werden, – sagte er fast flüsternd, als ob er Angst hätte, sie mit seinen Worten zu erschrecken.

Amalia war von dieser Aussage überrascht. Ihr Lächeln zuckte kurz, aber sie fasste sich sofort wieder.

– Du musst erst in der Armee dienen, – antwortete sie mit leichter Diplomatie, als ob sie ihm einen weiten Horizont öffnete, – und dann wird man sehen.

Ihre Worte klangen wie eine sanfte Ablehnung, aber in ihnen lag ein Funken Hoffnung. Für David war das alles, was er brauchte. Er verstand, dass sein Weg zu ihrem Herzen noch nicht zu Ende war, aber auch nicht verschlossen. Jetzt wusste er: Er hatte Zeit, zu beweisen, dass er ihrer Liebe würdig war.

Geologische Untersuchungsarbeiten auf dem Gebiet der Kolchose brachten Maria und Emilia Leis die Ehe, aber auch Unglück. Die ersten Bohrungen zeigten, dass in der Steppe nicht tief liegende, große Grundwasservorkommen vorhanden waren. Das Wolgagebiet galt als die zweite Kornkammer der UdSSR nach der Ukraine. Die Leitung der deutschen Republik hatte sich ein sehr hohes Ziel gesetzt: den Weizenanbau zu erreichen oder sogar zu übertreffen. Die Lösung dieses Problems sah man in der Erweiterung und Erschließung neuer Ackerflächen durch Bewässerung. Die Leitung der Kolchose „Schmied des Sozialismus“ erhielt ebenfalls eine Anweisung von oben: So schnell wie möglich alle ungenutzten Flächen zu erschließen.

– Können die da nicht lesen? – empörte sich Nina Petrowna offen. – Die Geologen haben doch gewarnt, dass dieses Wasser salzig ist und nicht für den Ackerbau geeignet.

Niemand in der Leitung der Kolchose widersprach ihr damals…

Die nächtliche Stille im Männerwohnheim wurde plötzlich durch das unerwartete und unpassende Erscheinen von Amalia zerrissen. David konnte ihre Silhouette im schwachen Licht der Petroleumlampe gerade noch erkennen, als sie, zitternd, zu ihm lief. Die Wärme ihrer Umarmung und die Feuchtigkeit der Tränen, die in sein Hemd eindrangen, überraschten ihn.

– Nina Petrowna wurde verhaftet, – wiederholte sie, keuchend vor Tränen.

Diese Worte klangen wie ein Donnerschlag am klaren Himmel. David drückte sie wortlos fester an sich, fühlte, wie ihre Verzweiflung ihn ergriff. In seinem Kopf mischten sich Fragen und Wut: Warum? Wieso?

Amalia zitterte. Es schien, als ob sie das Geschehene noch nicht ganz begriffen hatte.

– Wer… hat das getan?, – fragte David rau, als er sich leicht von ihr abwandte, um ihr Gesicht zu sehen.

– Aus dem Kanton, – hauchte Amalia, atemlos. – Es heißt Sabotage… Sie hat den Befehl zur Erschließung des Landes nicht ausgeführt.

David spürte, wie Zorn in ihm hochkochte. Sabotage? Nina Petrowna? Diese Frau, die ihr Leben der Arbeit gewidmet hatte und die Kolchose über alles stellte? Er wusste, wie sie diskutiert hatte, die Argumente der Geologen verteidigte, aber ihre Worte stießen auf eine Mauer von oben.

– Das ist ein Fehler, – sagte er fest, obwohl er wusste, dass Worte die Realität nicht verändern würden.

Amalia hob ihren Blick, ihre tränengefüllten Augen schienen eine stumme Bitte zu senden.

– David, was wird jetzt aus uns? Aus der Kolchose?

Er wusste keine Antwort. Aber als er sie ansah, fühlte er, dass er etwas unternehmen musste.

– Wir lassen sie nicht allein, – sagte er, seine Stimme war nun fest wie Stahl. – Wir finden heraus, wo sie ist. Wir werden herausfinden, was zu tun ist.

Die Worte klangen bestimmt, obwohl er im Inneren wusste, dass ihre Möglichkeiten gegen das System minimal waren. Aber der Blick von Amalia, ihr Vertrauen in ihn, gab ihm das Gefühl, dass er jetzt mehr als nur ein Nachbar oder Freund sein musste. Er sollte ihre Stütze sein, derjenige, auf den sie sich verlassen konnte.

Draußen begann es zu dämmern. Ein neuer Tag über der Steppe brachte Stille mit sich, aber in jedem Bewohner der Kolchose „Schmied des Sozialismus“ regte sich Unruhe.

Früh am Morgen, von seinen nächtlichen Gedanken aufgewühlt, eilte David in die Werkstatt, wo er normalerweise den Leiter der MTS, Onkel Anton, finden konnte. Er war einer der wenigen Erwachsenen, denen David vertraute. Der junge Mann stürmte in den Raum, in dem die Mechaniker an einem Traktor arbeiteten, und ohne auf eine Antwort zu warten, platzte es aus ihm heraus:

– Onkel Anton, warum?!

Der Werkstattleiter hob den Kopf von den Teilen, warf David einen strengen Blick zu und legte wortlos einen Finger auf die Lippen. Seine ernste Geste war ausdrücklicher als jedes Wort. David erstarrte sofort und spürte, wie kalter Angstschweiß ihn durchzog.

Onkel Anton richtete sich schweigend auf, legte seine Werkzeuge in die Kiste und ging, ohne sich umzudrehen, zum Ausgang, wobei er David mitten in der Werkstatt zurückließ. Alle um ihn herum taten so, als sei nichts passiert, und der Klang von Metallklirren und Hämmern erfüllte erneut den Raum.

Niemand wollte über Nina Petrowna sprechen. Ihr Name schien verboten worden zu sein. Die Leute vermieden sogar Flüstergespräche, aus Angst, dass jedes unvorsichtige Wort bis zu denen gelangen könnte, die unnötige Fragen stellen könnten.

Im Dorf herrschte bedrückende Stille. Jeder wusste, dass etwas Ernsteres passiert war, aber niemand wagte es, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. David verließ die Werkstatt, ballte die Fäuste. Ihn ergriff ein Gefühl von Hilflosigkeit und Wut. Er wusste, dass diese Angst, die die Leute zum Schweigen brachte, schlimmer war als jeder Befehl.

Die Versammlung der Kolchosenbewohner war für den Morgen angesetzt. Die Menschen versammelten sich mit Besorgnis vor dem Verwaltungshaus, viele ahnten, dass die Nachrichten ernst sein würden. Der erste Sekretär des Rayon-Komitees der WKP(b), ein strenger Mann mit finsterem Blick, stieg auf die improvisierte Tribüne. Nach der formellen Begrüßung verkündete er:

– Wegen der personellen Umstellungen wird die Leitung der Kolchose künftig ein neuer Direktor übernehmen.

Diese Worte fielen wie ein Donnerschlag. „Direktor“ – ein neues Wort für sie, fast wie ein Fremdwort, das plötzlich in ihre gewohnte Welt eindrang. Die Menschen tauschten Blicke aus, und einige flüsterten einander zu: „Was bedeutet das? Wie wird es jetzt weitergehen?“

Auf die Tribüne trat der neue Direktor – ein großer Mann mit durchdringendem Blick, in einem strengen Anzug. Er stellte sich knapp und mit sicherer Stimme vor und ging sofort zur Sache, indem er die „Anweisungen von oben“ verlas. Es war klar, dass dieser Mann nicht gekommen war, um Kompromisse zu suchen.

Nach der Versammlung begann die Ausgabe der offiziellen Dokumente. David, der in der Schlange mit anderen jungen Männern stand, erhielt einen weißen Umschlag aus den Händen des neuen Chefs. Auf der Vorderseite stand deutlich: „Vorladung“.

– Bereiten Sie sich auf den Dienst vor, junger Mann, – sagte der Direktor trocken und hielt Davids Blick, als wollte er ihn genau mustern.

David nickte langsam, obwohl ihm sofort viele Gedanken durch den Kopf schossen. Dienst? Jetzt? Wo doch alles im Leben wieder aus den Fugen geraten war?

Er ging zu Amalia, die abseits stand, und reichte ihr wortlos die Vorladung. Sie las sie schnell, aber ohne Regung, nur ihre Lippen pressten sich fester zusammen.

– Du hast jetzt deine eigene Front, – sagte sie, bemüht, ihre Stimme zu kontrollieren.

David nickte. Er wusste, dass nun der Moment gekommen war, in dem ihre Wege vorübergehend auseinander gingen, und es würde von seiner Stärke und seinem Willen abhängen, wie er zurückkehren würde. Und innerlich brannte nur ein Wunsch – so schnell wie möglich zurückzukommen, um wieder bei ihr zu sein.

David war tatsächlich achtzehn Jahre alt geworden, und diese Tatsache war schon lange kein Geheimnis mehr. Er hatte sich gezwungen, sein wahres Alter ehrlich und ohne Ausflüchte zuzugeben. Das Geheimnis hatte Nina Petrowna aufgedeckt, die immer auf Ordnung bedacht war und für alles, was ihre Schützlinge betraf, eine offizielle Bestätigung verlangte.

Nach dem Treffen im Jahr 1932 mit Davids Mutter und Stiefvater auf der Messe stellte sie eine offizielle Anfrage in sein Heimatdorf Müller. Bald kam eine Kopie aus dem Kirchenbuch, in dem alles schwarz auf weiß vermerkt war. Noch am selben Tag rief sie David in die Verwaltung.

– Weißt du, was mir für die Nutzung von Kinderarbeit droht? – fragte Nina Petrowna streng und schob ihre Brille an die Nasenspitze.

David stand da, schuldig von einem Bein aufs andere tretend, obwohl er sich kaum ein Lächeln verkneifen konnte.

– Aber in den ersten Jahren habe ich doch gar nicht gearbeitet, – scherzte er, die Augen senkend, – ich habe hauptsächlich gelernt…

Ihr Gesicht zuckte. Es schien, als würde sie gleich lachen, doch dann beherrschte sie sich sofort wieder.

– „Gelernt hat er!“ Aber durch den Flur bist du trotzdem immer mit der Schaufel gerannt. Weißt du, wie viele graue Haare du mir wegen dir beschert hast?

Statt zu antworten zuckte er nur mit den Schultern, und Nina Petrowna, die die Papiere beiseite schob, legte plötzlich, wie eine Mutter, fürsorglich ihre Hand auf seine Schulter.

– Na gut, David. Aber jetzt bist du erwachsen. Du wirst für dich selbst verantwortlich sein müssen.

Diese Worte hatte er sich gemerkt. Sie klangen wie ein Rat, der nun aktuell wurde, da er in seinen Händen die Vorladung zum Militärdienst hielt. „Selbst verantwortlich sein“ – dieser Satz hallte in seinem Kopf, wie der Klang einer Glocke, die daran erinnerte, dass die Kindheit endgültig vorbei war.

***

Es ist schwer, sich David Schmidt als Soldaten vorzustellen. Und nicht etwa, weil ihm die Uniform nicht stand – im Gegenteil, in der Uniform sah er beeindruckend aus. Die breite Brust und die muskulösen Arme machten seinen Körper fast zu einer Statue, als wäre er aus starkem Stein gemeißelt. Die geringe Körpergröße mit kurzem Oberkörper und kräftigem Nacken ging harmonisch über in die mächtigen Schultern und den breiten Brustkorb. Die schmale Hüfte und die festen Oberschenkel, die wie aus Stein gemeißelt wirkten, betonten seine natürliche Kraft. Die stämmige Figur von David erweckte Respekt, und die kurzen, quadratischen Hände mit hervorstehenden Venen und beeindruckenden Fäusten verrieten, dass er wohl in der Lage wäre, jeden mit einer Hand zu besiegen.

Auch sein Gesicht war nicht ohne markante Schönheit: die dunkle Haut, die runden Wangen, die leuchtend grünen Augen, die große gerade Nase und die fleischigen Lippen gaben ihm das Aussehen eines Menschen, bei dem Einfachheit mit Zuverlässigkeit verschmolz.

Doch trotz all dessen war es schwer, sich David Schmidt als Militär vorzustellen. Warum? Weil hinter dieser mächtigen Statur die Seele eines Friedensapostels steckte. Gutmütig, sanft und ruhig, konnte er nicht streiten. Die Nachbarn aus der Kolchose erinnerten sich nur Gutes an ihn – niemand hatte David jemals in einen Streit gesehen, kein Krach konnte ihn in seinen Strudel ziehen. Man respektierte ihn nicht wegen seiner Stärke, sondern wegen des sanften Lichts, das von ihm ausging, wie von einem Menschen, der bereit war zu helfen, zuzuhören und zu verstehen.

David musste in der Armee in der Artillerie dienen – als Fahrer eines Zugpanzers „Komintern“, hinter dem ein imposser 122-mm-Geschütz zog. Die Technik fügte sich schnell in seine Hände – hinter dem Steuer fühlte er sich sicher und ruhig. Zwei Jahre Dienst vergingen für ihn wie im Flug, wie ein Traum, in dem es weder das Donnern der Kanonen noch die erschöpfenden Märsche gab. Alle seine Gedanken waren zu Hause, im Heimatdorf, wo Amalia geblieben war. Bevor er in die Armee ging, hatte sie ihm versprochen, seine Frau zu werden, sobald er zurückkehrte.

Doch im Herbst 1939 wurde der gewohnte Ablauf des Dienstes gestört. An einem Tag wurde Davids Regiment in Alarmbereitschaft versetzt, und schon unter dem Deckmantel der Nacht überquerten sie die polnische Grenze. Der Artillerie-Zugpanzer, den David steuerte, fuhr langsam nach Lemberg. Hier, unter den Lichtern einer fremden Stadt, verlas man den Rotarmisten die offizielle Verfügung der Sowjetregierung, dass sie „das Leben und Eigentum der Bevölkerung der Westukraine und Westbelarusslands unter ihren Schutz stellen sollten“.

– Na, jetzt ist die Demobilisierung hundertprozentig sicher! – rief David erleichtert aus, als der offizielle Teil beendet war. Sein Glaube an eine baldige Rückkehr nach Hause war so stark wie er selbst.

Er war vergeblich froh gewesen. Fast ohne Pause erhielten ihre Einheiten den Befehl, weiterzuziehen – die Völker des Baltikums zu befreien. Die Operation erinnerte mehr an eine Reise oder, wie ihr Kommandeur es nannte, an einen „kulturellen Krieg“. Die Soldaten bewegten sich auf den Straßen, kaum Schüsse waren zu hören, und sie wurden lediglich von misstrauischen Blicken der Einheimischen begleitet.

Bei einer Rast nahe der Stadt Tartu fiel Davids Blick zufällig auf eine zerfledderte Broschüre am Straßenrand. Als er sie aufhob, stellte er fest, dass es sich um eine Gedichtsammlung handelte, deren Autor ihm unbekannt war. In der kurzen biografischen Notiz wurde erwähnt, dass der Verfasser der Dichter Igor Sewerjanin war, der aus Russland nach Estland emigriert war. David, der der Poesie bisher fernstand, war überrascht, wie tief ihn die Verse eines der Gedichte berührten:

  • В пресветлой Эстляндии, у моря Балтийского,
  • Лилитного, блеклого и неуловимого,
  • Где вьются кузнечики скользяще-налимово,
  • Для сердца усталого – так много любимого,
  • Святого, желанного, родного и близкого!

(In des Lichts Estland, an der Ostsee Baltika, Lilithartig, blass und nicht greifbar, Wo Heuschrecken flimmernd-gleitend tanzen, Für das müde Herz – so vieles geliebtes, Heiliges, ersehntes, vertrautes und nahes!)

David betrachtete die Zeilen lange, als ob sich darin ein verborgener Hinweis befände.

– Eine seltsame Sache, – dachte er. –Mich, obwohl ich ein Deutscher bin, zieht es unwiderstehlich zurück an die Wolga, während ein russischer Dichter die Küste der Ostsee besingt. Bedeutet das, dass Begriffe wie ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ weder von Blut noch von Geburtsort abhängen …?

In Litauen, Lettland und Estland mussten die Artillerieschlepper ihre Geschütze nicht einmal in Stellung bringen. Alle Feldzüge beschränkten sich auf Märsche durch Städte, in denen niemand Widerstand leistete. Der Oktober ging in den November über, doch von Entlassung sprach niemand, und Fragen zu diesem Thema wurden als Disziplinarverstöße gewertet.

Am 30. November kam ein neuer Befehl – Krieg gegen Finnland. Die Kommandeure hatten offenbar darauf gewartet, dass der Winter die Sümpfe Süd-Finnlands gefrieren ließ, damit sie passierbar wurden. Doch in ihren Plänen hatten die „klugen Köpfe“ die beißende Kälte des Nordens nicht bedacht, die die Schwierigkeiten dieses Feldzuges noch verschärfte. Unter den harschen Bedingungen starben Hunderte von Rotarmisten in der gefrorenen Erde Kareliens, und Tausende kehrten verstümmelt zurück, mit erfrorenen Händen, Füßen oder Ohren.

David rettete sein Schlepper, in dem sich stets ein warmer Winkel fand, und die robusten Filzstiefel, die ihm wie durch ein Wunder kurz zuvor zugefallen waren. Der Winter zog sich über drei lange Monate hin, doch im März endete der Krieg. Er wurde als „Winterkrieg“ bekannt, und David … blieb weiterhin im Dienst.

Der Wehrdienst zog sich in die Länge. Für vorbildliche Pflichterfüllung und Disziplin wurde ihm, einem der Ersten in der Einheit, ein neuer Rang verliehen, der in der Roten Armee erst kürzlich eingeführt worden war. Nun war er Gefreiter Schmidt, doch dieser Titel wärmte seine Seele wenig. Das vierte Jahr des Dienstes neigte sich dem Ende zu, und David träumte mit jedem Tag mehr von der Heimat, wo Amalia auf ihn wartete.

David kehrte spät im Frühling 1941 in die Sowchose zurück. Voller Freude und Aufregung lief er als Erstes zum Schweinestall. Auf dem Weg dorthin rief er laut vor Glück:

– Amalia!

Seine Stimme hallte über den Hof. Aus dem dunklen Torbogen trat eine vertraute Gestalt. David lief sofort zu ihr, zog sie in seine Arme und fragte, stockend vor Aufregung:

– Wirst du jetzt endlich meine Frau?

Amalia lächelte und sah ihm direkt in die Augen:

– Ja!

– Den Ehering schmiede ich dir selbst! – erklärte er entschlossen.

– Wоzu? – fragte sie erstaunt.

– Das gehört sich so, glaube ich, – meinte David verlegen.

– Aussteuer ist auch üblich, und die habe ich nicht, – lachte Amalia und strich ihre hellbraune Flechte aus dem Gesicht. – Dazu noch ein kranker Bruder obendrauf. Wo sollen wir überhaupt wohnen?

David ließ sich nicht beirren:

– Ich regle alles im Büro. Hier habe ich schon eine ganze Straße mit neuen Häusern gesehen!

Doch bei der letzten Frage zögerte er einen Moment:

– Ist Nina Petrowna zurück?

Amalia schüttelte schweigend den Kopf, und in ihrem Blick lag ein Schatten des Verlusts …

Aus der Verwaltung kehrte David finster zurück. Ein Haus hatte man ihm nicht gegeben, nicht einmal eine Ecke im Gemeinschaftswohnheim war frei. Auch Zeit zum Ausruhen nach der Armee und den Kriegen gab es nicht. Die Aussaat war in vollem Gange, und jede Arbeitskraft war von unschätzbarem Wert. David wurde sofort auf das entlegenste Feld geschickt, wo sie Brunnen für ein neues Bewässerungssystem bohrten.

Spät am Abend, nachdem er sich in Zivilkleidung umgezogen hatte, machte er sich auf, um Amalia von der Arbeit abzuholen. Sie war gerade dabei, Gerste für die Schweine zu mahlen. Im schwachen Licht einer Glühbirne schaufelte sie geschickt das Korn zusammen. Ihr gerötetes Gesicht strahlte vor Gesundheit und Wärme, und aus dem Kopftuch hatten sich blonde Zöpfe gelöst. Plötzlich spürte David, wie etwas in ihm aufwallte – etwas mehr als nur Freude.

Unwillkürlich trat er zu ihr, umarmte sie fest, als hätte er Angst, sie könnte in der Nacht verschwinden, und küsste sie zum ersten Mal richtig – leidenschaftlich und aus tiefstem Herzen.

Diese Nacht verbrachten sie zusammen. Sie lagen hinter der Getreidemühle auf einer Schicht verstreuten Korns und träumten davon, wie sie ihr gemeinsames Leben aufbauen und Kinder bekommen würden. Es war ihr einziger Moment des Glücks, den die Zeit davontrug…

Am nächsten Morgen wurde David auf Neuland geschickt, zwanzig Kilometer vom Kolchos entfernt. Die Arbeit war zermürbend, und die Heimkehr war ein seltenes Privileg. Doch auch dieser Alltag wurde Ende Juni unterbrochen.

Eines Tages tauchte ein Bote auf dem Feld auf. Martin, Amalias schwächlicher kleiner Bruder, brachte die Nachricht mit einer knarrenden Kutsche: Die Deutschen hatten die Sowjetunion angegriffen. David und ein weiterer Maschinist wurden zum Dorfsowjet beordert.

Am nächsten Tag standen vor dem Dorfsowjet die qualmenden Motoren von Lastwagen, und eine Menschenmenge von Einberufenen drängte sich dort. Angehörige verabschiedeten sich, weinten und umarmten sich. David fand Amalia in der Menge. Sie hielt seinen Rucksack fest umklammert.

– Warum zitterst du? – fragte er und strich sanft über ihre Schultern.

– Ich habe Angst, Davidchen, – flüsterte sie mit zitternder Stimme. – Lewitan hat doch gesagt, dass dies ein Großer Vaterländischer Krieg ist. Ich habe Angst, dass es für lange Zeit sein könnte.

– Alles wird gut, – versuchte er, mit fester Stimme zu sprechen. – Der Krieg wird schnell vorbei sein. So wie im Baltikum. Ich komme zurück, bevor die Winterfurche beginnt.

Amalia zögerte, senkte den Blick und sagte leise:

– David… Ich bin schwanger.

Er erstarrte, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Einen Moment lang sagte er nichts, dann umarmte er sie fest:

– Umso mehr. Wir dürfen uns mit diesem Krieg keine Zeit lassen. Ich komme zurück, bevor das Baby da ist, das verspreche ich.

***

Die Einberufenen aus dem Kanton Selman wurden über den Bahnhof in Saratow an die Front geschickt. Auf dem Platz vor dem Bahnhof hielt man sie über zwei Wochen fest. Die Soldaten schliefen unter freiem Himmel und vertrieben sich die Zeit, während sie auf Befehle warteten. Mehrmals erhielten sie den Befehl, in die Züge einzusteigen, doch im letzten Moment wurde er widerrufen. Erst Mitte Juli wurden sie schließlich in Güterwaggons verladen und in den Süden geschickt.

Diese Nachricht rief Verwunderung hervor. Der Krieg tobte im Westen, aber sie wurden immer weiter ins Landesinnere transportiert.

Die militärische Einheit wurde in einem Lager der OSOAWIACHIM in der Nähe von Uralsk formiert. David blieb am Eingang stehen und las den langen Namen laut vor:

– Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, der Luftfahrt und des chemischen Aufbaus.

Zuerst wurden die Rekruten kahlgeschoren und dann eingekleidet. Für das Instandsetzen der Uniform hatten sie nur einen Tag Zeit. David, ein geschickter Mann, nähte selbst, bügelte und befestigte vor allem mit Ehrfurcht die messingfarbenen Dreiecke eines Gefreiten an den Kragenspiegeln. Früher hatten seine Kameraden über ihn gespottet und ihn einen Angeber genannt, aber David wusste: Er hatte diesen Rang durch ehrliche Arbeit verdient.

Doch jetzt interessierte sich kaum jemand für seine Vergangenheit als Gefreiter. Was ihn jedoch am meisten überraschte, war, dass man einen Mechaniker und Traktoristen statt zur Artillerie oder zu den Panzertruppen zur Infanterie schickte.

– Na, was bin ich schon für ein Infanterist? – dachte David verständnislos. – Da versteh mal einer die Logik der Kommandeure!

– Gefreiter! – ertönte die energische Stimme des Feldwebels Anikeew.

David sprang vorschriftsmäßig auf.

– Ich zerbreche mir hier den Kopf, wie ich allein mit den Grünschnäbeln klarkommen soll. Du wirst Gruppenführer!

– Genosse Feldwebel, ich kann das nicht! – David hob abwehrend die Hände.

– Das bringen wir dir schon bei, – antwortete Anikew gelassen.

– Aber ich bin Traktorist … – versuchte der Gefreite sich zu rechtfertigen.

– Umso besser! – unterbrach ihn der Feldwebel gereizt. – Hebel in die Hand – und vorwärts!

Er befahl, die Gruppe in einer Stunde antreten zu lassen, und ging ins Hauptquartier.

David betrachtete seine Untergebenen – zehn junge Soldaten. Unter ihnen war ein Russe, zwei Ukrainer, sechs Kasachen und ein Tatare. Die meisten von ihnen sprachen kaum Russisch.

– Also gut, – sagte David entschlossen. – Jeder von euch muss den Satz lernen: „Soldat soundso, zur Überprüfung bereit.“

Neben ihm, an der Spitze der zweiten Gruppe, stand der Kasache Anar Kuschabergenow – ein ehemaliger Lehrer und hervorragender Kenner der russischen Sprache. David fühlte Respekt vor ihm.

Unterdessen schritt der Kompanieführer durch die Reihen der Rekruten und befahl laut:

– Nur das lehren, was im Kampf gebraucht wird! Keine Minute für Nebensächlichkeiten!

Diese Worte, trotz ihrer scheinbaren Einfachheit, blieben David lange in Erinnerung.

Innerhalb weniger Wochen wurden die Rekruten in die Grundlagen der Militärwissenschaft eingeführt. Täglich marschierten sie, formierten sich zu Reihen, Kolonnen und Zügen. Der junge Politoffizier, Leutnant Fjodor Simonenko, erklärte mit großem Enthusiasmus die Bedeutung von Stalins Juli-Ansprache an das Volk. Dann bekamen die Soldaten Gewehre ausgehändigt. Man brachte ihnen bei, diese zu zerlegen und zusammenzusetzen, zu reinigen, zu ölen und sie wie eine „Mutter“ zu behandeln. Der Verlust der Waffe drohte mit einem Kriegsgericht.

An einem der Augustsonntage legten die Kommandanten und Soldaten den Eid ab. Noch in derselben Nacht wurden sie eilig in einen Zug verladen, der am frühen Morgen Richtung Westen abfuhr.

David träumte davon, Moskau zu sehen, aber auch dieses Mal flog die Hauptstadt an ihm vorbei. Mit hoher Geschwindigkeit raste der Zug an der Stadt vorbei in Richtung Nowgorod. Doch bis nach Nowgorod kamen sie nicht: Der Zug wurde in Waldai entladen.

Am Stadtrand begann die eilige Vorbereitung der Stellungen für die zweite Verteidigungslinie. Die Soldaten gruben Schützengräben und Unterstände direkt auf einem ungemähten Roggenfeld. Für David und seine Gruppe, die hauptsächlich aus Dorfbewohnern bestand, war dies ein besonders schmerzhafter Moment. Die Feldspaten fraßen sich in die Schwarzerde und schnitten dabei die reifen Ähren ab.

– Wieder wird es Hunger geben, – seufzte David schwer, während ihm unaufhaltsam die Tränen kamen.

Diese Arbeit war nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch seelisch belastend. Jeder Hieb mit dem Spaten erinnerte daran, dass ein Bauer es gewohnt war, zu schaffen, nicht zu zerstören.

Mit jedem Tag wurden die Geräusche der fernen Kanonaden deutlicher. Doch in der zweiten Verteidigungslinie erfuhren die Soldaten nur aus den Berichten des Sowjetischen Informationsbüros über den Verlauf der Kämpfe. David wusste: Kämpfe waren unvermeidlich, aber das Warten war das Schwerste.

An ihren Befestigungen zogen Kolonnen von Rotarmisten gen Westen. Zurück kamen nur Wagen mit Verwundeten.

In einer der seltenen Pausen beschloss David, einen Brief an Amalia zu schreiben. Er besorgte sich ein Blatt aus einem Heft, befeuchtete mit Speichel den Bleistift und nutzte den Gewehrkolben als Stütze, um zu schreiben. Er schrieb auf russisch:

„Hallo, meine geliebte Malja. Ich möchte dir mitteilen, dass ich am Leben und gesund bin, was ich dir auch wünsche. Ich vermisse dich sehr. Aber schreibe mir noch nicht. Wir werden bald in den Angriff übergehen. Wenn wir den Feind besiegen und ich am Leben bleibe, werde ich dir alles erzählen.

Ich bin sehr glücklich, dass wir ein Kind bekommen werden. Das Wichtigste ist, dass es gesund zur Welt kommt und dass es dir gut geht. Wenn es ein Junge wird, nenne ihn Nikolaus nach meinem Vater. Und wenn es ein Mädchen wird, dann entscheide selbst. Frauen verstehen sich da besser.

Ich hoffe, dass sie Martin wegen seiner Gesundheit nicht an die Front holen. Irgendwie ist er ja auch eine Hilfe für dich. Einen tiefen Gruß an alle Nachbarn und die sozialistischen Kusnez des Sowchos. Euer David Schmidt.“

Er faltete den Zettel sorgfältig, steckte ihn in einen Umschlag, den er im Voraus besorgt hatte, und versteckte ihn im Rucksack. Der Brief musste noch abgeschickt werden, aber David wusste, dass er dies bei der ersten Gelegenheit tun würde.

In den ersten Oktobertagen wurde ihre Division von den Waldaier Stellungen nach Moskau verlegt. Der Zug bewegte sich unter ständiger Gefahr durch Luftangriffe. Als sie in der Station Malojaroslawez ankamen, ging das Bombardement weiter. Das Entladen und der Grabenbau erfolgten unter der Erde, die von den Explosionen bebte. Diese Linie wurde ihre neue Verteidigungslinie, deren Aufgabe es war, die Hauptstadt zu verteidigen…

***

Die Nacht vor der ersten Schlacht war überraschend ruhig. Über der Stellung lag Stille, die nur ab und zu vom Rascheln des Nachtwinds unterbrochen wurde. Das blasse Mondlicht spiegelte sich in den Stiefeln des Offiziers, der entlang des Grabens ging.

– Gruppenführer, Gefreiter Schmidt!“ – versuchte David, die vorgeschriebene Haltung zu wahren, ohne aus dem Graben herauszutreten, als der Offizier sich näherte.

– Frei! – sagte der Politoffizier Simonenko müde. Er trat halb gebeugt näher und musterte die Soldaten.

Die Soldaten, die das Näherkommen des Leutnants bemerkten, drückten sich leise an die feuchten Wände des Grabens, um ihm den Weg freizumachen.

– Jude, oder was? – fragte Simonenko plötzlich, als er Davids Gesicht betrachtete.

– Keineswegs! – erwiderte dieser überrascht. – Ich bin ein Deutscher.

– A-a-a“, zog der Offizier nachdenklich die Silbe, als ob das irgendetwas erklärte. Er wandte sich den anderen zu.

– Sind alle bereit für den Kampf?

– Wir haben außer Gewehren nur je zwei Flaschen Brandbomben, – begann David, um den Mangel an Ausrüstung zu erklären.

– Keine Panik, Gefreiter! – unterbrach ihn Simonenko. Seine Stimme klang fest, aber ohne Schärfe. – Der Befehl lautet, bis zum letzten zu halten!

Der Leutnant verstummte und starrte in Richtung des dunklen Horizonts, wo eine Gefahr zu lauern schien. Dann fügte er leiser hinzu:

– Nicht unnötig in den Angriff gehen. Aber auch nicht zurückweichen. Es gibt keinen weiteren Rückzugsort.

Die Worte des Offiziers hingen schwer in der feuchten Nachtluft und verstärkten die Anspannung, die bei jedem Soldaten spürbar war. Vor ihnen lag das Ungewisse, aber jeder wusste, dass es hart und blutig sein würde.

Am nächsten Tag, nach einem morgendlichen Luftangriff und einem ohrenbetäubenden Artilleriebeschuss, gingen die deutschen Truppen zur Offensive über.

– Bis zum letzten standhalten! – rief die Stimme von Gefreiter Schmidt. Sie zitterte nicht vor Angst, sondern vor verzweifelter Entschlossenheit. Es war kein Befehl – es war eine Bitte an seine Soldaten.

Die erste Welle des Angriffs konnte abgewehrt werden. Aber gegen Mittag drangen deutsche Panzer vor, unterstützt von Artillerie. Die Verteidigungslinie des Bataillons begann unter ihrem präzisen Feuer zu brechen. Jede Explosion riss Erde und Hoffnungen heraus. Die Soldaten versteckten sich in den Gräben und pressten sich in den feuchten Boden, als könnte er sie retten.

David spürte, wie seine Wange, die an der Erde lag, von Kälte und Feuchtigkeit taub wurde. Eine Granatenexplosion in unmittelbarer Nähe betäubte ihn, aber er klammerte sich weiterhin an den letzten Rest seines Kontrollgefühls.

Zuerst konnte ein Soldat des Zuges nicht mehr aushalten. Er stand auf und rannte – nicht zu seinen eigenen Leuten, sondern zu den Faschisten, die Hände erhoben.

– Feigling! – schrie David innerlich und hob das Gewehr. Seine Hände zitterten, doch er drückte den Abzug. Alle fünf Kugeln aus seinem Magazin flogen dem Überläufer nach.

Nicht alle Soldaten bewahrten ihre Standhaftigkeit. Einige versuchten, sich durchzuschlagen, in der Hoffnung, zu fliehen.

– Einer… zwei… – zählte David mit Entsetzen, als er sah, wie sie die Stellung verließen.

– Zurück! – schrie der Kommandant des benachbarten Zuges, Kudzhabergenov. Seine Stimme zitterte vor Verzweiflung.

Doch die Deserteure hörten nicht mehr. Einer von ihnen fiel, getroffen von einer feindlichen Maschinengewehrsalve. Ein anderer wurde von eigenen Leuten erschossen – die hintere Verteidigungslinie ließ keinen Fluchtweg offen.

Die Explosion einer Panzergranate zerfetzte den Raum neben Davids Graben. Schrapnelle flogen in alle Richtungen, und das Feuer ergriff die Luft. Die Flaschen mit Brandbomben explodierten eine nach der anderen und trugen zum Chaos bei.

Vor Davids Augen flimmerten Millionen von Funken. Unerträglicher Schmerz durchzuckte seinen Körper, als ob er von innen aufgerissen wurde. Das Bewusstsein schmolz dahin, versank in der Tiefe der Stille und Dunkelheit.

***

Die Historiker werden später schreiben: Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit und massiver Angriffe gelang es den deutschen Truppen nicht, die Verteidigung in diesem Sektor zu durchbrechen. Die Stadt blieb unzugänglich. Als die Faschisten sie von hinten umgingen, fanden sich die sowjetischen Kämpfer in der Umklammerung. Zwei Tage hielten die Krieger ohne Schlaf und Verpflegung durch und leisteten Widerstand bis zur letzten Patrone. Als die Munition ausgegangen war, versuchten die Übriggebliebenen einen Durchbruch. Von mehreren Tausend Menschen, die diese Linie verteidigten, entkamen nur etwa hundert lebend aus der Umklammerung. Es war ein Sieg, für den ein zu hoher Preis bezahlt wurde.

Der Ruf des letzten Rehs

Aus der Kälte in die Hölle,

Hineingestoßen nackt und bloß:

Ich bin von meiner Heimat nicht fortgegangen –

Warum also wurde ich ihrer beraubt?

Boris Tschitschibabin

Рис.4 Amalien Jahrhundert

Aus der Höhe eines Adlerflugs konnte man sehen, wie eine verschlungene Rinne die mit einer dicken Schneeschicht bedeckte Mugodschary-Ebene durchzog – es war die Niederung des Flussbetts der Elek. Sich durch die Steppe windend, zerriss sie die weiße Schneedecke wie eine feine, aber entschlossene Linie eines Malerpinsels. An einigen Stellen hoben sich gelbe Sandabbrüche an ihren Ufern scharf ab und setzten Kontraste in die monochrome Winterlandschaft. Die Kalkfelsen hingegen verschmolzen mit dem endlosen weißen Teppich, fast unsichtbar in diesem stummen Reich der Kälte.

Elek – ein Flussname, der aus dem Kasachischen als "Reh" übersetzt wird. Einst gab es hier zahllose dieser Tiere, als hätte die Natur selbst diesen Ort für ihr anmutiges Dasein auserwählt. Dieser Steppenfluss war seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der lokalen Landschaft. Sein Flussbett, mal stürmisch und ungestüm, mal träge und gemächlich, schien im Einklang mit der Steppe zu atmen und erinnerte daran, dass auch unter dem weißen Tuch des Schnees das Leben verborgen lag, bereit, mit den ersten Frühlingsstrahlen zu erwachen.

Am Ende einer klaren, windstillen Nacht legte sich ein feiner Hauch von Frostkristallen um die Stämme der Uferweiden. Der Reif, wie ein zarter Schleier, überzog die Zweige der Bäume und des Saxauls, die runden Schilfrohre und die langen, trockenen Blätter des Rohrkolbens. Selbst ihre gewöhnlich dunkelbraunen Kolben wirkten nun, als wären sie mit weichem, weißem Moos bedeckt. Der Frost der letzten Tage hatte die ohnehin silbrigen Rispen des Schilfs noch heller gemacht, sodass sie wie zerbrechliche Schneeschmuckstücke aussahen. An den Sträuchern entlang des Ufers hingen Spinnweben, die im Raureif wie flauschige Girlanden erstarrt waren – ein Überbleibsel des vergangenen Altweibersommers.

Alles war in makellosem Weiß gehüllt und atmete den Zauber des Winters. Nur vereinzelt unterbrachen dunkle, spiegelnde Wasserflecken dieses Reich der Reinheit – nicht zugefrorene Stellen des Flusses, wo mächtige Quellen aus der Erde sprudelten und daran erinnerten, dass die Natur selbst in der tiefsten Kälte niemals völlig zum Stillstand kommt.

In einem Moment flackerte ein grauer Schatten in den Uferdickichten auf. Ein elegantes braunes Tier mit einem kurzen weißen Schwanz trat vorsichtig aus dem dichten Gestrüpp und hinterließ tiefe Hufabdrücke im weichen Schnee. Das Reh näherte sich dem Rand des glänzenden Eises, seine Bewegungen waren anmutig, als hätte die Natur sie bis ins kleinste Detail perfektioniert. Es blieb stehen, hob aufmerksam den Kopf und blickte sich wachsam um: ein Blick in die eine, dann in die andere Richtung, gefolgt von einem kurzen Rückblick.

Der Jäger, der sich in der Nähe verborgen hielt, lächelte leicht. Er wusste, dass Rehe die Welt nicht mit den Augen, sondern mit Ohren und Nase wahrnehmen. Ihr Geruchssinn und Gehör waren makellos, doch ihr Sehvermögen ließ zu wünschen übrig. Der Bock, der keine Gefahr witterte, beugte sich sicher zum Wasser und begann zu trinken. Seine kräftigen, bereits gut entwickelten Geweihe mit doppelter Verzweigung und beginnendem Bogen nach innen deuteten auf sein Alter hin – dieser wilde Bock, wie er auch genannt wird, war über zwei Jahre alt.

Der Jäger kannte die ungeschriebene Regel: Auf junge Tiere zu schießen ist tabu. Ihre Geweihe sind noch nicht schön genug und fehlen die perfekten Bögen, die ihnen die Form einer von Jägern geschätzten Lyra verleihen. Auch das Fleisch des Jungtiers hat nicht den reichen Geschmack, den man von einer reifen Trophäe erwartet.

Die Welt umher verharrte in morgendlicher Stille, nur das Reh, das den Kopf gesenkt hatte, trank Wasser, ohne zu ahnen, dass sein unsichtbarer Beobachter bereits beschlossen hatte, es in Ruhe zu lassen.

Zwischen dem Jäger und der Beute lagen etwa hundert Meter. Der Mann hielt sogar den Atem an, als ob die gesamte Umgebung mit ihm innehielt. Seine Muskeln spannten sich wie stählerne Saiten, und sein zielgerichtetes Auge schien weiter und klarer zu sehen als sonst. In ihm erwachte das unvermeidliche Verlangen eines Jägers: die Beute nicht zu verpassen und sicher zu treffen.

Er hob die Kimme auf die Rückenlinie des Tieres, und mit seinem halb erfrorenen Finger begann er vorsichtig und gleichmäßig, den Abzug zu drücken.

Die Stille wurde von einem ohrenbetäubenden Schuss durchbrochen. Der Rehbock brach zusammen, als wäre er gefällt worden, und stieß nur ein einziges tiefes, zischendes Röhren aus – einen letzten Warnruf, der seine Artgenossen auf die Gefahr aufmerksam machen sollte. Der Jäger verharrte, erwartend, dass aus dem Dickicht gleich mit Getöse und Rascheln eine Herde hervorstürzen würde – einige Weibchen und Jungtiere, die gewöhnlich den älteren Bock begleiteten.

Doch nichts geschah. Die Umgebung blieb in gespannter Stille eingefroren. Nur von den Uferweiden erhob sich mit lautem Krächzen ein schwarzer Schwarm Krähen, der die weiße Raureifdecke aufwirbelte und der Szene eine unheilvolle Atmosphäre verlieh.

In demselben Augenblick durchbrach ein heller Sonnenstrahl, der hinter der Kante einer hohen Kalkklippe am gegenüberliegenden Ufer hervorkam, die Augen des Jägers und zwang ihn, sie zusammenzukneifen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Landschaft vor ihm bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die scharfen Konturen und dunklen Linien der Ufervegetation waren verschwunden und hatten sich in einem grenzenlosen, blendend weißen Licht aufgelöst, in dem selbst Schatten unerreichbar schienen.

Einen Moment zuvor hatte der Adlerblick des Jägers noch jede Kleinigkeit erfasst – einen gewundenen Ast, die kaum sichtbare Spur von Hufen im Schnee, das feine Spiel von Schatten in den Ufersträuchern. Doch nun hatte die Natur alles in ein einziges, alles umfassendes Strahlen verwandelt.

– Wie verhängnisvoll doch ein einziger Moment sein kann, nur ein winziger Schritt des Minutenzeigers, – dachte er und unterdrückte einen Seufzer. Langsam erhob er sich aus seinem Versteck am Rand des Sandabbruchs.

Der einheimische Oberhaupt (kas.-Bay) Baymukhambet Schukenow warf einen flüchtigen Blick auf den Horizont, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Beute zuwandte.

Zuerst richtete er seine auf die Stirn gerutsene rote Fuchsmütze und klopfte die Mischung aus Schnee und Sand ab, die sich während des langen Wartens auf der Brust und den Ellbogen seines halblangen Mantels aus weißem Schafsfell angesammelt hatte. Dann zog er den Gürtel aus robustem, verziertem Leder mit einer Metallschnalle fester und bemerkte mit Unmut die schmutzigen Flecken an den Knien seiner hellen Pluderhosen, die an den Innenseiten mit Einsätzen aus Schaffell verstärkt waren. Er warf das Gewehr über die Schulter und begann, in die Niederung des Flusses hinabzusteigen. Geschickt hielt er das Gleichgewicht am steilen Abhang, wobei er seine Schritte in den Filzstiefeln mit Gummigaloschen – von den Kasachen Baypak genannt – vorsichtig abbremste.

Die dunkle Wasserflecken umgehend, wo das klare Quellwasser das Eis unterspülte, näherte sich Baymuchambet vorsichtig dem gestürzten Tier.

Der schlanke Rehbock lag reglos da, fast verschmolzen mit der weißen Schneedecke, die nun von feinen, perlenartigen Blutstropfen geschmückt wurde, die sich fächerförmig um ihn herum ausbreiteten.

Baymukhambet hockte sich daneben und strich mit der Hand über das kurze, dunkle Fell auf dem Rücken des Tieres, das einen leicht bräunlichen Glanz hatte. Die weichen Farbverläufe an den Flanken – von Grau mit Creme übergehend zu fast reinem Weiß am Bauch – faszinierten ihn und erinnerten an die natürliche Harmonie der wilden Natur. Vorsichtig berührte er die breiten, dicht behaarten Ohren und betrachtete die mit knorrigen Wucherungen bedeckten Hörner, die das Alter und die Würde des Tieres bezeugten.

Seine Finger legten sich sanft auf die weit geöffneten, agatenen Augen des Rehbocks, die von langen, dichten Wimpern umrahmt waren, als wollten sie dem Tier seinen letzten Frieden schenken. Flüsternd sprach er Worte der Vergebung, gerichtet an den Herrscher aller Lebewesen, und versprach, dass dieses Geschenk der Natur weise und mit Dankbarkeit genutzt würde.

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, strich Baymukhambet mit trockenen Handflächen über sein Gesicht, als wollte er die Worte des Dankes und der Vergebung versiegeln. Dann brachte er die Finger scharf zum Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, so laut, dass das Echo über die verschneite Ebene rollte.

Auf der Spitze des Sandabbruchs, wo der Jäger vor Kurzem noch auf seine Beute gewartet hatte, erschien ein brauner Hengst. Sein kastanienbraunes Fell wirkte tief und satt dank der dichten schwarzen Haare, die besonders an Kopf, Hals und den oberen Beinen auffielen. Mit jeder seiner Bewegungen wehte die dichte, pechschwarze Mähne in der Luft wie züngelnde Flammen. Aus seinen breiten Nüstern strömten Dampfwolken, die den Eindruck erweckten, das Pferd würde förmlich Hitze ausstrahlen.

– Kein Pferd, sondern ein Feuer! – rief Baymukhambet voller unverhohlenem Staunen aus, während er seinen treuen Begleiter mit Stolz betrachtete.

Hinter dem braunen Hengst tauchten zwei Reiter am Rand des Abhangs auf. Ohne zu zögern stiegen sie ab und begannen vorsichtig den steilen Hang hinunterzusteigen, bemüht, dem selbstsicheren und schnellen Schritt des Pferdes zu folgen, das als erstes zu seinem Herrn eilte.

– Boran! – rief Schukenow laut seinem treuen Gefährten zu, dem Pferd, das er selbst aufgezogen und ausgebildet hatte. Der Name des Hengstes, übersetzt als „Schneesturm“ oder „Unwetter“, passte perfekt zu seinem ungestümen Charakter und seinem temperamentvollen Wesen.

Das Herz des Bay füllte sich mit Stolz, als er sah, wie Boran, ohne auf die Steilheit des Abhangs zu achten, sicher den Weg hinabging und die Menschen hinter sich ließ. In diesem Moment blitzte vor den Augen seines Herrn eine Erinnerung auf: im Frühling hatte derselbe Hengst, getrieben von einem natürlichen Instinkt, eine rossige Stute gespürt. Boran folgte damals seinem tierischen Trieb und galoppierte davon, ohne auf die Befehle zu achten. Schukenow musste Hunderte von Kilometer zurücklegen, um den Flüchtigen einzuholen.

– Ein Kletterkünstler! – rief der Bay mit unverhohlenem Stolz aus, während er sich leicht in den Sattel schwang. Er strich Boran über die flatternde, pechschwarze Mähne, und das Pferd schien durch das Lob noch lebhafter zu werden. Es schnaubte stolz und trotzte dem frostigen Morgen.

Die Diener hoben vorsichtig den Körper des Rehbocks auf und befestigten ihn geschickt auf dem Widerrist des Bay-Hengstes. Boran stand ruhig da, als ob er die Wichtigkeit des Moments verstand, bewegte nur leicht die Ohren und ließ Dampfwolken aus seinen Nüstern aufsteigen.

Schukenow, der bereits seinen kastanienbraunen Hengst bestiegen hatte, gab ein Zeichen, und die drei Reiter setzten sich im Trab in Richtung Westen in Bewegung. Ihre Silhouetten lösten sich allmählich in der grenzenlosen Weiße der winterlichen Steppe auf, während das rhythmische Klappern der Hufe weit über das gewundene Tal des Elek hinaus widerhallte.

Nur wenige Minuten später spürte Baymukhambet, wie die Kälte unter seine Kleidung drang und sich eine seltsame, fast absurde Müdigkeit in seinem Körper ausbreitete. Dieses Gefühl war ihm vertraut: Nach einer erfolgreichen Jagd, wenn die erschöpfende Anspannung des Wartens, bei der jede Faser seines Körpers wie ein einziger Nerv gespannt war, nachließ, stellte sich eine völlige Erschöpfung ein. Die verbrauchten Kräfte und die Energie schienen ihn mit einem Schlag zu verlassen, und sein Körper fühlte sich schwer und träge an, als wäre er mit weichem Heu gefüllt.

Bay ahnte bereits, dass ihn zu Hause ein weiterer Streit mit seiner jungen Frau erwarten würde. Abyz, die Tochter des großen Sultans Aryngaziev, des Herrschers über die weiten Ländereien von Aktobe und eines der reichsten und einflussreichsten Mitglieder des Tabyn-Stammes des jüngeren Kasachen-Hordes, machte ihm immer Szenen, wenn er von der Jagd zurückkehrte.

Ihre Verärgerung war durchaus verständlich. Vor Kurzem hatte sie ihm einen Erben geschenkt, und es war natürlich, dass sie sich wünschte, ihr Mann wäre öfter zu Hause, würde mehr Zeit mit der Familie verbringen und sich nicht ständig auf nächtliche Jagden begeben, selbst im Winter.

Es wäre eine Sünde, auch nur zu denken, dass Baymuchambet die Jagd bevorzugte, um der Gesellschaft seiner Frau zu entgehen, die ihm vielleicht langweilig geworden war. Im Gegenteil, mit seinen Jagdtrophäen wollte er Abyz noch mehr gefallen, ihr seine Stärke, seinen Mut und seine Würde beweisen. Jedes Mal, wenn er ihr das erlegte Tier zu Füßen legte, war es, als würde er ihr immer wieder aufs Neue seine Liebe schwören.

Es war ihm gleichgültig, dass die wunderschöne Abyz ihn oft tadelte. Bay bemerkte nur zu gut, mit welcher Freude sie in ihren Truhen wühlte, die mit Fellen und Leder überquollen. Wie alle Frauen liebte auch sie die schönen Dinge, die ihr Mann für sie erbeutete.

Abyz wusste um die grenzenlose Liebe ihres Baymukhambets. Genau diese Gewissheit machte sie unersättlich in ihrem Wunsch, jedes einzelne Moment mit ihm zu teilen. Deshalb litt sie so sehr unter ihren Trennungen, besonders während der häufigen nächtlichen Winterjagden.

Abyz hätte Baymukhambet leicht dazu bringen können, zu Hause zu bleiben – ein kleiner Hinweis auf ihre hohe Herkunft hätte genügt. Das Land, auf dem der Stamm der Schukenows heute lebte, gehörte ihr. Die fruchtbaren Weiden entlang des Quellflusses Elek waren Teil der Mitgift, die Abyz in die Ehe eingebracht hatte. Doch eine liebende Ehefrau wie Abyz hätte ihren Mann niemals gedemütigt, indem sie ihn an ihre noble Abstammung oder an den Reichtum erinnerte, den sie in die Familie gebracht hatte.

Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, dieses Privileg auszunutzen. Sie hielt es für unwürdig und fürchtete, unbeabsichtigt seinen Stolz zu verletzen. Das Einzige, was sie sich erlaubte, war ein leichter, fast unmerklicher Vorwurf. Mit tadelndem Blick in seine Augen konnte Abyz auf ihre ganz weibliche Art leise, aber mit Gefühl sagen:

– Fehlt es dir zu Hause etwa an Fleisch?

Für die Jagd auf Rehe hatte Abyz jedoch kein Mitleid mit ihrem Mann:

– Als ob es dir an anderen Tieren mangeln würde! Rehe findet man jetzt kaum noch, selbst wenn man danach sucht. Und das nur, weil die Stanitzen der Ukrainer, wie kleine Ziegenkotkugeln, die Ufer unseres Flusses überflutet haben und diese grazilen Tiere verschrecken. Und du, anstatt sie zu verschonen, tötest auch noch die letzten. Wenn das so weitergeht, werden die Rehe ganz verschwinden, und dann muss man den Fluss Elek umbenennen…

Der Jäger strich sanft über das weiche Fell des Rehs, das auf seinem Sattel lag, und überlegte sich insgeheim, wie er sich dieses Mal vor Abyz rechtfertigen könnte:

– Ich hatte wirklich keine andere Wahl, – begann er in Gedanken. – Ich wartete auf einen Fuchs oder zumindest auf einen Steppenhasen, aber genau da trat mir dieser Bock direkt vor den Lauf. Hätte ich so eine Beute entkommen lassen können? Dafür hast du jetzt die besten Wildlederschuhe der ganzen Gegend, gemacht aus der Haut eines Rehs von den Ufern des Elek. Und das alles nur, weil ich dich liebe und du meine Einzige bist, für immer.

Diese Gedanken, durchdrungen von Liebe und Wärme, umhüllten ihn wie eine Decke und wärmten ihn von innen. Der Frost schien nicht mehr so hart, und der Weg nicht mehr so lang. Schon bald erschienen auf einer Anhöhe, in der Nähe eines steinernen Friedhofs, einige graue Jurten und zwei halb in die Erde gebaute Häuser aus Schiefer.

Am Eingang einer der größeren und längeren Erdbehausungen wartete Abyz auf Baymukhambet. Auf ihrem Kopf thronte ein hoher, schneeweißer Turban, wie eine Krone, die ihre stolze Haltung und edle Herkunft unterstrich. Kaum hatte sie ihren Ehemann erblickt, griff sie eilig nach den Zügeln seines Pferdes und brachte das Tier zum Stehen.

Baymukhambet, innerlich schon auf die nächste Diskussion vorbereitet, sprang geschickt vom Sattel. Als er näher trat, legte er sanft beide Hände auf Abyz’ Schultern, bemüht, die Stimmung in ihrem Gesicht zu lesen. Doch der besorgte Ausdruck in ihren Augen ließ ihn sofort aufhorchen.

– Was ist passiert? – wollte er fragen, doch Abyz kam ihm zuvor. Sie nickte in Richtung der Tür:

– Komm ins Haus, man wartet dort auf dich!

In ihrer Stimme lag eine zurückhaltende Beunruhigung, die die Anspannung in der Seele des Jägers nur verstärkte.

Hätte Bay gewusst, dass die schwarzen Raben, die er bei Tagesanbruch mit seinem Schuss aufgescheucht hatte, bereits Unheil herbeigekrächzt hatten…

– Wer ist so früh hier erschienen? – fragte er leise und blickte Abyz in die Augen, als hoffe er, dass sie ihm sagen würde, alles sei in Ordnung.

– Zwei Boten aus Aktobe, – antwortete sie mit spürbarer Anspannung. – Ein russischer Offizier und sein Dolmetscher.

In ihren Worten lag nichts Überflüssiges, doch Baymukhambet verstand: Der Besuch der unerwarteten Gäste versprach nichts Gutes.

Im geheizten Raum, neben dem großen Kasan, hantierten zwei Dienstmädchen. An der Eingangsecke, wo normalerweise die Dienerschaft Platz nahm, saßen nun die ungebetenen Gäste und tranken Tee. Ein kleiner, untersetzter Kasache, gekleidet in einen Infanteriemantel aus grobem, grau-braunem Tuch ohne Abzeichen, sprang sofort auf und begrüßte den Hausherrn mit einer unterwürfigen, fast schmeichelnden Höflichkeit. Er stellte sich als ein Sohn der Familie Isengalijew vor. Die Lichtstrahlen der Petroleumlampe spiegelten sich in seiner gesprungenen Brille und in den blank polierten, flachen Kupferknöpfen seiner Kleidung.

Der russische Offizier, offenbar ein niederrangiger Befehlshaber, entschuldigte sich fast für das so frühe und unvermittelte Eindringen, indem er zögernd seine Teetasse beiseitestellte. Doch als er sich an den Zweck seines Besuchs und seine damit verbundene Wichtigkeit erinnerte, richtete er sich nur leicht auf, nickte flüchtig mit dem Kopf und setzte sich wieder bequem hin, um seinen Tee weiter zu schlürfen.

– Verehrter Myrza, – begann der Dolmetscher, – uns wurde befohlen, Ihnen persönlich ein Dekret des russischen Ministeriums zu überbringen.

Das Wort „Myrza“, das im Kasachischen „Herr“ oder „Edler“ bedeutet, war eine Anrede, die den hohen Status von Baymukhambet betonte. Der offizielle Tonfall des Dolmetschers war betont respektvoll, aber dennoch schwang eine Spur von Anspannung darin mit.

Das Hauspersonal half dem Bay, seinen Schafspelzmantel und seine Baipaks auszuziehen. Abyz bot ihrem Mann an, die traditionellen, dünnen Lederschuhe namens Masi zu tragen, die im Haus für Wärme und Bequemlichkeit getragen wurden. Doch Baymukhambet lehnte ab und stieg in seinen Filzstrümpfen, die bis zu den Knien reichten, auf die niedrige Sitzbank, die den restlichen Raum einnahm und mit einem kostbaren Teppich bedeckt war.

Er ging in die rechte Ecke des Hauses und warf einen Blick in die Kinderwiege, die aus Zweigen der Spiersträucher geflochten war. Die Wiege war zur Hälfte bedeckt, gemäß der Tradition, mit sieben symbolischen Gegenständen: einem Tschapaan, einem Mantel aus Schaffell, einer Pelzjacke, einem Zaumzeug, einer Peitsche und einer speziellen Decke. Darin schlummerte ihr Erstgeborener. Als er das friedliche Gesicht des schlafenden Babys betrachtete, beugte sich Baymuchambet über die Wiege und flüsterte die Wiegenlieder „Äldi-äldi“, wiegte sanft seinen Sohn und küsste ihn liebevoll auf die Stirn.

Aus irgendeinem Grund verweilte Baymukhambets Blick auf einem der vielen Säbel, die die Wand schmückten. Seine Hand griff wie von selbst danach, um die Waffe zurechtzurücken, als hinge die Ordnung im Haus von ihrer exakten Position ab. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles an seinem Platz war, setzte sich der Bai an die Stirnseite des niedrigen Tisches, wobei er die Beine im Schneidersitz darunter schob.

Sein Verhalten konnte überheblich wirken. Es schien, als bemerkte oder hörte er die Boten gar nicht. Die Kaumuskeln des russischen Offiziers begannen vor offensichtlicher Verärgerung unruhig zu zucken.

Abyz, bemüht, die Spannung zu mildern, reichte ihrem Mann eine Schale mit Tee. Sie verstand genau: Hinter dieser scheinbaren Gleichgültigkeit verbarg der Bay seine Verunsicherung und Gedanken. Er analysierte die Situation sorgfältig, überlegte seine nächsten Schritte und bereitete eine angemessene Antwort vor.

Baymukhambet musterte gemächlich, fast herausfordernd, erneut die ärmliche, eindeutig fremdartige, halbmilitärische Kleidung des Übersetzers. Dann nahm er einen kräftigen Schluck des heißen, aromatischen Tees, blickte seinen Gast kurz an und sagte knapp:

– Was hast du gesagt?

Der Dolmetscher warf dem Offizier einen besorgten Blick zu, suchte nach Unterstützung, bevor er sich, die Zähne zusammenbeißend und seinen Ärger mühsam unterdrückend, erneut an den Bai wandte:

– Uns wurde befohlen, Ihnen persönlich ein Dekret des russischen Ministeriums zu überbringen.

Baymukhambet sah den Gast aufmerksam an und sprach ruhig, aber mit einer spürbaren Strenge in der Stimme:

– Ich denke, du hast die Traditionen unseres Volkes nicht vergessen: Für eine gute Nachricht steht dir ein Süjinschi (ein Geschenk für freudige Neuigkeiten) zu, aber für eine schlechte könnte man dir auch den Kopf abnehmen.

– Was habe ich denn damit zu tun? – murmelte Isengalijew hilflos und spürte, wie ein Kloß in seinem Hals aufstieg. – Ich bin doch nur der Übersetzer.

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Halberdhütte, und die Verwandten des Bays traten ein. Wie sich herausstellte, hatte Abyz, die Unheil witterte, Boten nach ihnen geschickt. Sie hielt dies für notwendig – es war selten, ja vielmehr noch nie vorgekommen, dass russische Offiziere in ihre Gegend kamen.

Baymukhambet war über den unerwarteten Besuch seiner Verwandten überrascht, fand sich jedoch schnell zurecht. Er warf einen Blick in Richtung seiner Frau und nickte ihr dankbar zu.

Die beiden Brüder von Baymukhambet, die den Winter mit ihren Familien und ihrer Herde etwas flussaufwärts verbrachten, nahmen routiniert Plätze zur Rechten des Bais ein.

Der Bay Azamat, der Onkel des Hausherrn, setzte sich mit seinen Söhnen an die linke Wand. Statt einer Begrüßung murmelte er mürrisch:

– Ich hoffe, dass dieses Treffen wirklich wichtig ist. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Morgengebet unterbrochen, und wir sind zehn Kilometer im Galopp geritten.

– Das werden wir gleich herausfinden, – erwiderte Baymukhambet, trank seinen Tee in einem Zug aus und wandte sich streng an die königlichen Gesandten:

– Mein Herz sagt mir, dass eure Nachricht nichts Gutes bringt. Sprecht, wenn ihr schon hier seid!

Isengalijew übersetzte die Worte ins Russische. Der Offizier erhob sich, richtete sich auf und zog gemächlich eine Schriftrolle mit einem großen Siegel aus seiner Feldtasche. Demonstrativ, sodass alle Anwesenden es sehen konnten, löste er das Siegel, entrollte das Dokument und begann vorzulesen:

– Auf Grundlage des höchsten Erlasses Seiner Kaiserlichen Majestät über die bäuerliche Bodenordnung verfügen wir, – der Offizier hielt inne, um dem Übersetzer Zeit zu geben, die Bedeutung der Botschaft den Angehörigen des Bais in kasachischer Sprache zu übermitteln, und fuhr dann fort: – Da die Hauptwirtschaftsform der kasachischen und kirgisischen Bevölkerung die Viehzucht ist und sie einen nomadischen Lebensstil führen, sollen alle fruchtbaren Gebiete in der Nähe von Flüssen und Wasserstellen dem Umsiedlungsfonds übergeben werden, um damit die von der Leibeigenschaft befreiten Bauern mit Land auszustatten.

Seine Worte schlugen wie ein Hammerschlag und zerschlugen die Stille, sodass die Anwesenden sich besorgt Blicke zuwarfen.

Isengalijew senkte, während er übersetzte, die Stimme, als wolle er das Gesagte abmildern. Doch selbst in seinen ruhigen Tonlagen schwang eine spürbare Unruhe mit.

Baymukhambet saß regungslos da, seinen Blick fest auf den Offizier gerichtet. Keine einzige Muskel seines Gesichts zuckte, doch in seinen Augen schimmerten kaum wahrnehmbare Anklänge von Zorn und Verzweiflung. Abyz, die hinter ihm stand, umklammerte fester den Rand ihres Schals, bemüht, ihre Besorgnis zu verbergen.

Plötzlich runzelte der Bay die Stirn und donnerte:

– Das heißt, unsere Ländereien sollen weggenommen werden? Und wer hat das entschieden?

Diese Worte brachen das Schweigen, und alle Blicke richteten sich auf den Offizier.

– Was soll das heißen? – Langsam begann der Bay die Tragweite der Situation zu begreifen. – Ihr wollt auf unserem Qystau russische Siedler ansiedeln?

– Das ist ein kaiserlicher Erlass, – murmelte der Übersetzer, – wir sind lediglich Boten.

– Das hier sind unsere Ländereien! – rief der jüngere Bruder des Bays aufgebracht und sprang von seinem Platz auf. – Wir geben sie nicht her!

– Das ist Raub! – empörte sich Onkel Azamat lautstark.

Baymukhambet hob abrupt die Hand, um seine Verwandten zur Ruhe zu bringen. Sein brennender Blick zwang sowohl den jüngeren Bruder als auch Azamat, sofort zu verstummen. Er wandte sich zum Übersetzer und sprach kalt, aber gefasst:

– Sag deinem Offizier, dass ein Gesetz gerecht sein muss. Hier leben meine Leute, und ihre Vorfahren haben diese Ländereien über Jahrhunderte hinweg beschützt.

Der Offizier forderte Isengalijew auf, ihm zu übersetzen, was die Kasachen sagten.

– Sie regen sich auf, – zuckte der Übersetzer mit den Schultern und fügte in herablassendem Ton hinzu, – ein wildes Volk, für sie hat das Gesetz keine Bedeutung.

Plötzlich erhob sich der Bay und schritt schnell auf den Übersetzer zu. Er packte ihn so heftig am Kragen, dass dessen Pincenez abrutschte und an einem an der Kleidung befestigten Bändchen hängen blieb. Mit scharfem, zischendem Ton sprach er auf reinem Russisch, direkt in die Augen des Mannes blickend:

– Wenn du noch einmal deinen dreckigen Mund aufmachst, reiße ich dir eigenhändig den Kopf ab. Kenn dein Platz, du Lakai!

Isengalijews Gesicht wurde schneeweiß. Er schrumpfte förmlich zusammen, als hätte er augenblicklich an Größe verloren. Vor Angst zitterten seine Knie, und seine Fassung schien ihn völlig verlassen zu haben. Wie hätte er ahnen können, dass der Großvater des Bay mütterlicherseits, der örtliche islamische Gelehrte Mendykulow, nicht nur als ein gebildeter Mann galt, sondern all seinen Kindern und Enkeln eine hervorragende Ausbildung verschafft hatte, darunter auch Kenntnisse der russischen Sprache?

Im Raum herrschte eine bedrückende Stille, so schwer wie dichter Nebel. Die Verwandten des Bay verharrten regungslos, wohl wissend, dass er sich am Rande des Zorns befand, aber ebenso erkennend, dass sein Ärger gerecht war. Selbst der Offizier, der die Veränderung der Atmosphäre spürte, spannte sich an. Er bemühte sich zwar, äußerlich ruhig zu wirken, beobachtete jedoch aus den Augenwinkeln jede Bewegung von Baimuchambet.

Isengalijew schlug hilflos mit den Augen, suchte nach einem Blick der Unterstützung, doch niemand im Raum zeigte ihm Mitgefühl. Der Bai ließ den Übersetzer so abrupt los, dass dieser beinahe zu Boden stürzte. Mit einem stechenden Blick und einer bitteren Ironie sagte Baimuchambet:

– Du denkst, sie werden dich schätzen? Dir einen Platz an ihrem Tisch anbieten? Für sie bist du nichts. Du hast dich selbst aufgegeben, um denen zu dienen, die dich verachten.

Dann wandte sich der Bay dem Offizier zu, entriss ihm den Erlass und sagte mit eisiger Ruhe:

– Eure Aufgabe ist es, den Erlass zu überbringen, unsere Aufgabe ist es, zu entscheiden, was damit geschieht. Ihr könnt eurem Vorgesetzten melden, dass Baymukhambet Schukenow, der Besitzer dieser Ländereien, sie bis zum Letzten verteidigen wird.

Der Offizier war sprachlos. Mit einer so selbstbewussten Rede auf seiner eigenen Sprache hatte er nicht gerechnet. Langsam setzte er sich wieder an den Tisch, beobachtete den Bai aufmerksam und versuchte, die Situation zu erfassen. Baymukhambet hingegen kehrte an seinen Platz zurück, setzte sich gerade hin und rief mit einer Geste Abyz, damit sie ihm erneut Tee einschenkte.

– Wir werden sehen, welches Gesetz stärker ist, – fügte er leise hinzu, sprach jedoch zu dem Offizier mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, das mehr eine Herausforderung als eine Drohung ausdrückte.

Der Offizier saß weiterhin, sichtbar verwirrt, doch seine Gedanken wanderten. Er versuchte zu ergründen, wie das alles enden würde und warum er überhaupt hierhergeschickt worden war. Eigentlich hatte er eine wichtigere Mission als die Übergabe des Erlasses: Er sollte herausfinden, ob die Einheimischen Widerstand leisten würden, und wenn ja, wie. Aber um dies zu erreichen, musste er zunächst diesen Moment überstehen, seine Sicherheit gewährleisten und einen Weg finden, ohne Verluste zurückzukehren.

„Es ist ja verständlich“, dachte der Offizier bei sich, „eine undankbare Aufgabe, den Einheimischen mitzuteilen, dass ihre angestammten Ländereien russischen Siedlern übertragen werden. Zum Glück bin ich kein Kirgise – sonst wäre ich für solche Nachrichten längst meinen Kopf los.“

In seinen Augen flackerte Müdigkeit, doch äußerlich blieb er unerschütterlich, als hätte er die Situation vollständig unter Kontrolle.

Baymukhambet begann laut den kaiserlichen Erlass vorzulesen, der den Schukenow-Clan anwies, in die Steppen von Schubar-Kuduk umzusiedeln. Als die Worte erklangen, ertönten aus einer Ecke des Raumes erschrockene Schreie weiblicher Stimmen. Abyz, mit bleichem Gesicht, hielt sich die Hand vor den Mund und sprach auf Kasachisch Worte voller Schrecken:

– It ölgen zher! – rief sie, ihre Stimme klang panisch. Die Bedeutung dieses Ausdrucks war klar: „Ein Ort, an dem selbst die Hunde gestorben sind“, was in diesem Kontext auf eine leblose, unfruchtbare Gegend hinwies.

– Barsa kelmes! – fügte sie hinzu, was bedeutete: „Ein Ort, von dem man nicht zurückkehrt.“ Auch diese Worte trugen eine schreckliche Vorahnung – den Tod oder das spurlose Verschwinden.

Die Spannung im Raum wurde erdrückend. Ein Säugling in der Wiege, erschrocken von den beunruhigenden Lauten, wachte auf und begann zu weinen, wodurch die Dramatik des Moments noch verstärkt wurde.

– Die Sultane der Aryngasy-Familie sind bereits in das Gebiet des Ural-Wolost ausgewandert, – fuhr der russische Offizier fort, betonte dabei die Wichtigkeit seiner Worte. – Und auch euch wurde geraten, keinen Widerstand zu leisten.

Die Familie verstummte, und alle Blicke richteten sich auf den Übersetzer, der versuchte, das Gehörte verständlich zu machen.

– Und was, sie haben einfach kampflos aufgegeben? – fragte Baymukhambet mit ruhiger, aber unterschwellig zorniger Stimme.

– Es sind zwei weitere Hundertschaften Orenburger Kosaken und eine Kompanie Infanteristen eingetroffen, – antwortete der Übersetzer und hob die Hände, als wisse er nicht, wie er die Situation erleichtern sollte.

– Ich habe euch doch gesagt, dass die Vermesser lügen, – sagte Onkel Azamat, der sich an die Verwandten wandte. – Von einer Eisenbahn wird hier keine Rede sein. Die Zarenbeamten haben ausgerechnet, wie viel von unserem Besitz sie beschlagnahmen können – und seht, wohin das geführt hat!

***

Der Frühling war gekommen. Der Clan der Schukenows hoffte, dass die russischen Behörden sie vergessen hatten. Wie üblich waren sie mit ihrem gesamten Vieh tief in die Steppe gezogen und hatten sich auf den Sommerweiden in der Nähe der Quellen des Flusses Usch-Karasu niedergelassen. Doch auch dort wurden sie gefunden.

An einem Maitag näherte sich von Westen her ein Kavalleriezug Kosaken ihrem Aul. Sie bekamen einen Tag Zeit, um sich zu packen. Später gewährten die Kosaken ihnen noch einen zusätzlichen Tag. Der wohlhabende Clan der Schukenows hatte viel zu sammeln. Unter der Aufsicht der Kosaken lud die Familie ihre Jurten und Haushaltsgegenstände auf große, von einhöckrigen Baktrien-Kamelen gezogene Karren mit riesigen Rädern. Außerdem trieben sie zahlreiche Schafherden, Rinder und Pferde zusammen. Nachdem sie ein Gebetsritual vollzogen hatten, setzte sich die große Karawane der Vertriebenen in breiter Formation in Bewegung.

Nach zwanzig Kilometern erreichten sie den Fluss Elek und setzten über. Anschließend stiegen sie das hohe Ufer hinauf und bogen scharf nach Süden ab. Zu ihrer Rechten blieben die Häuser ihres Winterlagers und der große Friedhof der Karassajer zurück. Die Kosaken ließen der Karawane jedoch keine Zeit, hier zu verweilen. Nur der Bay und seine Frau durften sich von den verstorbenen Vorfahren verabschieden. Baymukhambet hockte auf dem Boden und las Suren aus dem Koran, während Abyz Münzen, die in weiße Stoffstücke gewickelt waren, zwischen die Grabsteine legte.

Zwei Kosaken, die das Ritual vom Rücken ihrer gesattelten Pferde aus beobachteten, unterhielten sich:

– Was macht sie da? – fragte einer der Kosaken neugierig.

– Das ist ein Brauch bei ihnen. Nennt sich Sadaqa – so etwas wie Almosen für die Bedürftigen.

– Auf einem Friedhof?

– Ja. Es ist so etwas wie Wohltätigkeit mit Würde. Selbst die Ärmsten der Kirgisen würden niemals öffentlich um Almosen betteln. Aber sie wissen, wo sie Hilfe finden können, ohne sich vor anderen schämen zu müssen.

– Wir sollten auf dem Rückweg hier eine Rast einlegen, – sagte der andere verschwörerisch und zwinkerte seinem Kameraden zu.

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, stand Bay Schukenow auf, drehte sich zum Fluss um, streckte seine Arme auf Schulterhöhe aus und rief laut, wie einen Zauberspruch:

– Кеш менi, асыраушым, қасиетті Елегiм, айыпқа бұйырма! Мен оралам, мiндеттi түрде, оралам! Сенiн жагалауынды мыңдаған ан-құсқа толтырамын, Ант етемін!

(„Verurteile mich nicht, meine Ernährerin, mein heiliger Elek! Ich werde zurückkehren, unbedingt zurückkehren! Ich werde dein Ufer wieder mit Tausenden von Tieren füllen. Ich schwöre es!“)

Seine Worte, erfüllt von Schmerz und Hoffnung, hallten über den Fluss und verloren sich in der unendlichen Weite der Steppe. Sogar die Natur schien für einen Moment innezuhalten, um das Gelübde von Baimukhambet zu hören. Seine Frau Abyz wischte sich die Tränen aus den Augen, legte ihre Hand auf seine Schulter.

Nach der Zeremonie am Friedhof half Baymukhambet seiner Frau, auf das Kamel zu steigen, an dessen Höcker mit einem Griff die Wiege befestigt war, in der ihr vor wenigen Tagen geborener zweiter Sohn, Kadyrbek, lag. Erst danach schwang er sich selbst auf seinen Booran.

In diesem Moment näherten sich aus dem Norden zahlreiche Wagen, beladen mit Baumaterialien und Arbeitern, die der ausgetretenen Straße entlang des Flusses folgten. Mit Unmut beobachtete Baymuchambet, wie die Räder der schweren Karren tiefe Spuren in die Ufererde gruben. Er dachte: „Die trampeln hier alles nieder, das Vieh wird nichts mehr zu fressen finden.“ Sein Blick glitt über den dunklen Horizont, wo einst so viel Grün und Leben war, das jetzt allmählich von dem Land verdrängt wurde, das sein Clan über Generationen als Heimat betrachtet hatte. In seinem Inneren wuchs die Gewissheit, dass nichts Gutes dieses Land erwarten würde.

Die Landvermesser hatten allerdings nicht gelogen – hier würde tatsächlich bald eine kleine Station der Eisenbahnlinie Orenburg–Taschkent entstehen, die den Namen Akkemir tragen sollte. Und der Fluss Elek, der in der Nähe floss, würde von den russischen Beamten in ihren Dokumenten in Ilek umbenannt – so, wie sie es gehört hatten. Für sie war das nur eine weitere Formalität, aber für Baimuchambet bedeutete es weit mehr: Es war ein Symbol dafür, dass der Fluss, der einst ein lebendiges Bindeglied zwischen seinem Volk und seinen Vorfahren war, zu einem bloßen geografischen Punkt auf der Karte eines fremden Imperiums werden würde.

Nichts konnte diesen Prozess mehr aufhalten. Baymukhambet wusste das, und seine Seele war von Bitterkeit erfüllt. Der Lärm und das geschäftige Treiben der Arbeiter konnten das tiefe Gefühl des Verlustes in seinem Herzen nicht übertönen.

Baymukhambet bemerkte, dass auf einem der vorderen Wagen der ihm bereits bekannte Übersetzer Isengalijew saß. In seinem gesprungenen Pincenez und seiner halbmilitärischen Kleidung mit den blank polierten Messingknöpfen wirkte er fast komisch. Doch in diesem Anblick lag auch etwas Beängstigendes – ein Mann, der bis vor Kurzem nur ein einfacher Assistent gewesen war, wurde nun zu einem Teil des Systems, das das Land gerechter und edler Menschen wie der Schukenows an sich riss.

Ohne den Blick des Bays zu bemerken, richtete Isengalijew demonstrativ seine Brille und beobachtete schweigend weiter das Geschehen.

***

Der Clan der Schukenows, mit ihren zahlreichen tausendköpfigen Schafherden, Rindviehherden und Pferdeherden, benötigte fast eine Woche, um die halbwüstenartige Steppe von Schubar-Kuduk zu erreichen. Dort gab es kaum kümmerliche, spärliche Büsche von bitterem Wermut, die höchstens ausgereicht hätten, um hundert anspruchslose Kamele zu ernähren. Der Boden war steinig und unnachgiebig, und obwohl dieses Gebiet einst als Teil ihres Territoriums galt, fehlte es hier an der lebenswichtigen Feuchtigkeit, die Weiden wachsen ließ, und an Quellen, die Tieren und Menschen Kraft spendeten. Als sie schließlich ihr neues Ziel erreichten, spürte der Clan der Schukenows, dass der Fluss des Glücks sie diesmal im Stich lassen würde.

Schon im ersten Jahr an ihrem neuen Ort verlor der Clan der Schukenows einen Großteil seines Wohlstands – das Vieh verendete ohne Futter, und die karge Erde konnte selbst die widerstandsfähigsten Tiere nicht ernähren. Schafe, Pferde und Kühe verkümmerten und starben an Hunger und Krankheiten.

Natürlich fügten sich nicht alle Kasachen dem Umsiedlungsbefehl widerstandslos. Aus den Tiefen der endlosen Steppen, wo noch Reste von Unabhängigkeit und alten Traditionen erhalten geblieben waren, führten einige Batyre (Helden), die die Macht der Fremden ablehnten, immer wieder Überfälle auf Machthaber und Siedler durch. Diese mutigen und verzweifelten Angriffe waren eine Antwort auf den zunehmenden Druck und die Versuche, sie gewaltsam von ihrem angestammten Land zu vertreiben.

Es war nur logisch zu erwarten, dass die zaristischen Beamten, beunruhigt durch den wachsenden Widerstand, bald harte Maßnahmen ergreifen und den Kasachen das Nomadisieren verbieten würden, wodurch sie ihrer letzten Freiheit beraubt würden. Fast alle Jurten wurden ihnen genommen – die Hauptunterkunft der Hirten und Nomaden, auf der die gesamte Kultur des nomadischen Volkes basierte. Als sie nicht nur ihr Land, sondern auch ihre gewohnte Lebensweise verloren, waren die Folgen katastrophal.

Ohne Obdach und die Möglichkeit, mit den Weiden zu ziehen, sah sich der Clan der Schukenows, wie viele andere, einem schrecklichen Massensterben ausgesetzt: Das Vieh verkümmerte an Hunger und Krankheiten, und die Menschen selbst, ihrer Hoffnung beraubt, verloren Kraft und Gesundheit. Die Kette von Unglück und Zerstörung zog sich in die Länge, und nur wenige Überlebende konnten noch an eine Zukunft glauben.

Dann kam die Revolution, und vor dem Hintergrund der blutigen Stürme des Bürgerkriegs beschlossen die Ältesten des Clans der Schukenows, sich nicht an den Kämpfen zu beteiligen. Nicht, weil sie die neue Sowjetmacht anerkannten oder den Zarismus für die erlittenen Qualen verschonten. Nein, der Grund war prosaischer und vielleicht tragischer: Der Clan der Schukenows, der seines früheren Reichtums und seiner Hoffnung beraubt war, hatte nichts mehr zu verlieren.

Es fehlte an Kraft für Widerstand, und auch an Mitteln, um wie viele andere Kasachen nach China zu fliehen. Dieser tausend kilometern Marsch durch Berge und Steppen wäre ihr Ende gewesen und hätte nur Tod und Zerstörung hinterlassen. Ein Kampf lag nicht mehr in ihren Möglichkeiten.

In einer solchen Situation wählten die Ältesten den rationaleren Weg: bleiben und abwarten. Mit den Bolschewiken leben und sich anfreunden, ihre Lieder singen und alle Möglichkeiten nutzen, die die neue Macht bereit war anzubieten. Die weißbärtigen Alten, die so viel Angst und Entbehrungen durchlebt hatten, kamen zu der weisen Überlegung, dass die Kollektivierung und alles, was damit verbunden war, nichts Schlimmeres bringen würde als das, was sie bereits durchgemacht hatten. Schließlich war die Kollektivierung weniger furchteinflößend als Zerstörung, Hunger und Krieg. Sie begannen, sich anzupassen und sich mit den neuen Bedingungen abzufinden, auch wenn sie die Ideologie nicht teilten, sie jedoch als unvermeidlich und rettend akzeptierten.

Der ehemalige wohlhabende Bay Baymukhambet Schukenov, der einst klug und vorteilhaft die Tochter eines der einflussreichsten Sultane, Amangaziyev, geheiratet hatte, besaß von all seinem früheren Reichtum nur noch eines, das für ihn unzweifelhaft heilig war – seine drei Söhne: Murat, Kadyrbek und Danda. Der jüngste, Danda, wurde bereits im Exil geboren, in einer Welt, die sich stark verändert hatte und seine Familie ihrer früheren Pracht und ihres Status beraubt hatte. Die alte Welt, in der prächtige Nomadenzelte allgegenwärtig waren, endlose Herden grasten und ruhige Gespräche über Ehre und Reichtum geführt wurden, war verschwunden. Stattdessen musste sich Baymukhambet mit einer neuen Realität auseinandersetzen, in der sein Erbe nahezu ausgelöscht war und Träume von der Zukunft eine neue Gestalt brauchten.

Doch trotz aller Verluste und Prüfungen fand der Vater Trost in seinem Streben, seinen Kindern das Beste von dem zu geben, was er konnte. Er sah keinen Wert mehr in den Reichtümern dieses Landes oder in seinen Herden als Garant für Erfolg. Alles, was ihm in dieser neuen Welt blieb, war der Wunsch, seinen Söhnen ein Leben voller Wissen zu ermöglichen. Baymukhambet erkannte die Zukunft seiner Kinder nicht in den Weiden oder in den Händen von Handwerkern, sondern in der Bildung.

Er bestand darauf, dass die Jungen die russische Schule besuchten, die Sprache lernten, sich mit Literatur und all den Kenntnissen vertraut machten, die der Schlüssel zu jener Welt waren, die nun zunehmend ihr Schicksal bestimmte. Doch das war nicht genug. Sich der Bedeutung zusätzlicher Bildung bewusst, organisierte der Vater Privatunterricht, indem er zwei Lehrerinnen einlud, in seinem Haus zu wohnen. Diese Frauen waren nach der Revolution ins Dorf geschickt worden. Sie unterrichteten nicht nur seine Kinder, sondern wurden auch Teil seines Hauses. Natürlich nahm der Aksakal kein Geld für ihre Unterkunft. Er sorgte dafür, dass sich die Lehrerinnen wohlfühlten, und bewirtete sie sogar mit reichhaltigen Mahlzeiten, nach denen sie mit Freude die Lektionen fortsetzten.

So wurden nach einem guten Essen im einfachen, aber gemütlichen Haus die Lektionen für die drei Jugendlichen abgehalten. In einer Atmosphäre, in der die gewohnte Ordnung gestört und die Eigenständigkeit der Vergangenheit verschwunden war, fand Baymukhambet dennoch Wege, das Wichtigste zu bewahren – das Streben nach dem Licht des Wissens, nach einer Zukunft, die für seine Söhne neu war, aber weit mehr versprach als jeder Reichtum der Vergangenheit.

Die Zeit verging. Im Aul wurde ein Sowchos gegründet. Um die strengen Vorgaben für die Fleischproduktion zu erfüllen, begann die neue Regierung systematisch, das Vieh der Einheimischen zu beschlagnahmen und es in die Nähe des Bahnhofs von Shubar-Kuduk zu treiben. Dort, in einer stickigen, von Blut und Fleisch durchdrungenen Atmosphäre, wurde das Vieh geschlachtet, zerlegt und in Waggons verladen, um frisches Fleisch nach Moskau und Leningrad zu transportieren. Diese Politik, wie ein gnadenloser Mechanismus, durchdrang das gesamte Leben der Einheimischen, zerstörte ihre traditionelle Lebensweise und riss sie aus den Wurzeln ihrer angestammten Erde.

Für die Kinder der Kasachen jener Zeit wurde der Tod von Tieren schon früh ein unvermeidlicher Teil des Lebens, noch bevor sie laufen lernten. In jenen Haushalten, in denen es keine erwachsenen Männer gab und Fleisch ein unverzichtbarer Bestandteil der Mahlzeiten war, fanden die Frauen einen Weg. Sie nahmen die kleine Hand eines Kindes, auch wenn es noch ein Säugling war, und führten mit seinen winzigen Fingern das Messer. So schnitten sie dem Huhn die Kehle durch oder schlugen einem Lamm den Kopf ab – eine grausame, aber notwendige Praxis, um in einer Umgebung zu überleben, in der die Frage nach Menschlichkeit nicht gestellt wurde.

Auch die Brüder Schukenov blieben davon nicht verschont. Die herangewachsenen Jungen wurden, wie viele andere Jugendliche, zuerst zur Arbeit im Schlachthof in der Nähe des Bahnhofs herangezogen. Dort wurden sie Zeugen, wie ihr gesamtes Land zu einem mechanisierten Prozess wurde, in dem aus menschlichem Leid und der Angst der Tiere Nahrung für fremde Städte gemacht wurde. Die Welt ihrer Kindheit verschwand, und an ihre Stelle traten scharfe Gerüche von Blut, das Zischen von Messern und der rhythmische Takt der Zerlegung. Dies war nicht nur eine Prüfung für sie, sondern auch der Moment, in dem sie spürten, wie ein Teil ihres Landes und ihrer Kultur von der Gier nach Handel und Macht verschlungen wurde.

Mit ihrem Handwerk gingen sie meisterhaft um, als wären sie mit diesem Talent geboren. Jeder präzise, scharfe Hieb des Messers oder Beils war bis zur Perfektion ausgefeilt, und trotz ihrer Jugend machten die Brüder Schukenow keine Fehler in ihren Bewegungen. Doch in ihrer Arbeit lag etwas Verzweifeltes, Auswegloses. Ein tiefes Verständnis dafür, dass ihre Bemühungen vergeblich waren, dass alles, was sie taten, zunichtegemacht würde, ließ ein unheilvolles Gefühl in ihren Herzen aufsteigen. Sie waren lediglich kleine Zahnräder in einer riesigen Maschine, die sich nicht für ihr Schicksal interessierte.

– Diese Städter sind ja völlig kopflos! – sagte Danda mit einem ärgerlichen Blick auf die helle Frühlingssonne, während er auf den Güterwagen schaute, in dem sie arbeiteten. – So werden sie das Fleisch niemals bis in die Hauptstadt bringen. Höchstens ein Zug voller Würmer wird ankommen.

Auf dem blutgetränkten Boden des Güterwagens rutschend, luden er und seine Brüder frische Rindfleischhälften auf, bemühten sich jedoch, diese mit trockenem Stroh zu bedecken, um die Frische wenigstens ein wenig zu bewahren. Doch seine Gereiztheit ließ nicht nach.

– Sogar unsere Kinder wissen, dass Fleisch ohne Verarbeitung innerhalb eines Tages verderben kann, – schimpfte er, wohl wissend, dass das Fleisch trotz aller Bemühungen auf eine Reise geschickt wurde, die es unweigerlich verderben würde.

Murat, der Älteste der Brüder, packte das Beil fest und reichte es dem jüngeren Bruder, ohne auf dessen wütende Stimme zu achten.

– Hack einfach! – befahl er scharf. – Und halt den Mund! Unsere Aufgabe ist hier klein. Wir machen hier nur unsere Arbeit.

Danda ergriff wütend das Beil und überlegte für einen Moment die Worte seines Bruders. Doch dann fuhr er mit seinem Protest fort:

– Aber ich werde nicht schweigen! – brüllte der 23-Jährige, als ob er das Gewicht all seiner Gedanken auf seine Brüder abwälzen wollte. – Das ist doch reines Sabotieren! Ich werde es dem Vorgesetzten erklären.

Seine Stimme hallte durch den Wagen, doch keiner der Arbeiter schenkte seiner Wut Beachtung. Sie alle wussten, wie auch er, dass jeder Versuch, diesen Wahnsinn      sprozess zu ändern, sinnlos sein würde. Das Leben schien aufgehört zu haben, etwas Verständliches oder Sinnvolles zu sein.

Er rammte das Beil zwischen die Rippen einer Rinderhälfte und stürzte ohne zu zögern Richtung Verwaltungsgebäude. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller – ein brennendes Verlangen in seiner Brust, die Wahrheit jenen zu überbringen, die sich anscheinend überhaupt nicht um das kümmerten, was tatsächlich geschah.

–Wer ist hier der Verantwortliche? – fragte er entschlossen, als er in einen kleinen Raum am Bahnhof eintrat, in dem der graue Alltag nach verbrannten Papieren und altem Tabak roch.

Hinter einem Schreibtisch saß ein gebeugter älterer Mann, der völlig in seine Arbeit vertieft war und nur mühsam den Blick von einem Stapel Papier hob.

–Was willst du? – murmelte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, als wäre das die alltäglichste Beschäftigung in seinem Leben.

Danda verlor keine Zeit und kam gleich zur Sache:

– Es geht um Folgendes. Wir verladen Fleisch, aber das wird doch Moskau nie erreichen …

– Es wird verderben, – fügte er mit einem leichten Anflug von Ärger hinzu.

– Was, bist du der Klügste hier? – entgegnete die Stimme, diesmal mit einem Hauch von Unmut.

– Ich bin jedenfalls kein Dummkopf! Ich habe die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen. Wir sind Viehzüchter. Unsere Familie hatte früher tausendköpfige Herden. Wenn das Fleisch jetzt nicht verarbeitet wird, kommen nur Würmer in Moskau an, – erklärte Danda nachdrücklich, während sein Zorn über solch eine Gleichgültigkeit in ihm aufkochte.

Doch der Alte winkte nur ab, ohne zuzuhören:

– Na gut, verschwinde von hier, – sagte er mit einer abschätzigen Geste, – stör mich nicht bei der Arbeit.

Doch plötzlich erklang eine unbekannte Stimme, die Danda innehalten ließ.

– Warte mal, warte mal, – hörte er, und als er sich umdrehte, sah er einen hochgewachsenen, hageren Mann in einer schwarzen Lederjacke mit einem großen roten Stern auf der Budjonowka. Sein selbstbewusster Gang und entschlossener Blick signalisierten, dass er eine Person mit Macht war.

– Genosse Kommissar, – erhob sich der ältere Mitarbeiter hinter dem Tisch, – er ist doch noch ein Grünschnabel, um uns Vorschriften zu machen.

Der Kommissar beachtete die Worte des Alten nicht und trat zu Danda.

– Setz dich, – befahl er mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, während er einen Hocker an den Tisch schob und den jungen Mann mit einer Geste aufforderte, seine Sichtweise darzulegen.

Danda spürte einen Hoffnungsschimmer – endlich würde man ihn anhören. Er setzte sich auf den Hocker, zog sich zusammen und sammelte seine Gedanken, bevor er alles erzählte, was er darüber wusste, wie man Fleisch in der warmen Jahreszeit konserviert, damit es nicht verdirbt.

– Man könnte es großzügig mit Salz bestreuen, oder – falls kein Salz vorhanden ist – das Blut ablassen und das Fleisch anschließend im starken Wind und unter der heißen Sonne trocknen, um es zu dörren.

– Aber soweit ich weiß, haben wir nicht genügend Salz in diesen Mengen, und Zeit für das Trocknen der vielen Fleischmassen haben wir auch nicht, – sagte Danda entschlossen.

Er blickte dem Kommissar direkt in die Augen und fügte dann hinzu, als hätte er für sich selbst eine Entscheidung getroffen:

– Es bleibt nur eine Möglichkeit – das Vieh lebend zu transportieren. Futter und Wasser können in begrenzten Mengen gleich in die Waggons geladen oder unterwegs beschafft werden.

Der Kommissar dachte über seine Worte nach. Schweigend nickte er und erkannte, dass eine schwierige Entscheidung bevorstand, doch dieser junge Mann mit seinem Engagement und seinem Wissen hatte recht.

Es war unwahrscheinlich, dass seine Worte bis zur lokalen Führungsebene vordrangen. Doch offenbar erkannten auch die Lieferanten bald ihren Fehler. Als die Fleischtransporte bereits unterwegs ihren Wert verloren und es mehrfach zu verdorbenen Lieferungen kam, wurde schließlich die vernünftige Entscheidung getroffen: Das Vieh lebend zu transportieren. Dieses Mal war allen klar, dass es keinen anderen Weg gab. Nicht nur das Fleisch war zu kostbar, sondern auch der Ruf der gesamten Operation.

Bald begleitete Danda, wie er es vorhergesagt hatte, diese Transporte. Er übernahm die schwere und undankbare Arbeit eines Wachmanns, Fütterers und Versorgers des Viehs, um das Viehbestand während der Reise vor Verlust zu bewahren. Er trug nicht nur die Verantwortung für diese Aufgabe, sondern auch die endlose Last der Erschöpfung und setzte seinen Dienst fort, für den ihm allerdings kaum jemand dankte.

– Selbst schuld, – dachte er, – niemand hat mich gezwungen, für die richtige Sache einzusetzen.

Aber jetzt war seine Aufgabe klar, und er erfüllte sie, so gut er konnte.

Wie schwer das für ihn war, wusste er selbst. Manchmal, wenn er in dunklen Nächten an stillen Bahnhöfen hielt, spürte Danda, wie sein Körper nicht mehr weitergehen wollte, und seine müden Augen keine Horizonte mehr sehen konnten. Doch sein Wille und sein Verständnis dafür, dass solche Bemühungen nötig waren, um eine Katastrophe zu verhindern, trieben ihn voran.

Die beiden anderen Brüder der Schukenows blieben ohne Arbeit.

Kadyrbek, ein Mensch mit starkem Charakter und Sinn für Veränderung, wollte nicht in das menschenleere Dorf zurückkehren.

– Ich bleibe hier, – entschied er, fasziniert vom Rhythmus und der Dynamik des Alltags auf einem kleinen Bahnknotenpunkt, wo das Leben lebendiger und facettenreicher erschien als in der abgelegenen Steppe.

Schritt für Schritt entschied er sich, sein Schicksal mit der Eisenbahn zu verbinden. Er schrieb sich an der Orenburger Fabrikschule ein und wählte den Beruf des Eisenbahnmechanikers. Dies war ein völlig neues Kapitel in seinem Leben, voller Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Der Weg des Eisenbahners wurde für ihn zu einer echten Herausforderung, doch Kadyrbek war bereit, jede Entscheidung zu treffen, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Murat hingegen, ein Mensch mit einem bodenständigeren Blick auf das Leben, kehrte in sein Elternhaus zurück.

– Ich kann mir keine andere Zukunft vorstellen, – sagte er, – außer der, die unsere Familie seit Jahrhunderten lebt – hier im Aul, auf unserem Land.

Er verneigte sich vor den Traditionen und respektierte diejenigen, die auf ihrer Heimat geblieben waren. Murad blieb den familiären Werten und der Arbeit auf dem Land treu, dem Land, dem sein Herz immer gehören würde.

***

Die Zeitungsseiten jener Zeit waren voller freudiger Nachrichten über die Siege der Sowjetunion gegen Finnland. Doch für den letzten Bay des Geschlechts der Schukenows schien die Welt nicht mehr zu existieren. In ihm wurde alles allmählich still, wie ein Sonnenuntergang über der Steppe. Er fühlte, dass die Zeit gekommen war, sich zu verabschieden, und versammelte seine engsten Verwandten und Hausangehörigen um sich, um die letzten Tage im Kreise derer zu verbringen, die er liebte und respektierte.

Baymuchambet ließ seine Jurte im Hof aufstellen und darin weiche Kurpesschke – kasachische Teppiche, ein Symbol für Gemütlichkeit und Ruhe – auslegen. Dieser Moment war etwas Besonderes: Der Lebenskreis schloss sich, wie bei jedem echten Kasachen, dessen Leben immer im rechten Teil der Jurte begann, wo sich die Wiege des Kindes befand, und dort auch enden sollte, umgeben von den Nahestehenden auf dem eigenen Land.

In der Jurte stand ein hölzernes Atagasch – ein Gestell, auf dem der Verstorbene auf seiner letzten Reise getragen wird. Dieses wird oft auch als „Wiege“ bezeichnet. Von der Kinderwiege bis zur letzten Ruhestätte – dieser unvermeidliche Kreislauf des Lebens. Wie ein kasachisches Sprichwort sagt: „Тал бесіктен жер бесікке“ – von der Holzwiege bis zur Erdwiegе. Dieser harte Lebenszyklus, in dem Geburt und Tod untrennbar miteinander verbunden sind, war über Jahrhunderte hinweg ein wesentlicher Bestandteil der kasachischen Philosophie und Weltsicht.

Am nächsten beim Kopfende seines Vaters saß Murat, der älteste Sohn, mit untergeschlagenen Beinen, wie es der traditionellen kasachischen Sitzweise entspricht. Die Bildung, die Baimukhambet seinen Kindern ermöglicht hatte, war keine vergebliche Mühe. Murat war eine angesehene Persönlichkeit in seiner Gemeinde geworden, der Vorsitzende des Dorfrates, und nun stand er an der Schwelle zu einem neuen Leben, das er mit festem Glauben an die Zukunft aufbaute. Sein Blick war ruhig, doch in der Tiefe seiner Augen lag eine Traurigkeit, die er zu verbergen suchte.

Hinter ihm stand seine Frau, Dschamilja, eine zärtliche und treue Gefährtin. Sie war eine liebevolle Frau, doch ihr Gesicht war jetzt von einer unvermeidlichen Traurigkeit gezeichnet, die schwer zu verbergen war. Diese Traurigkeit hatte nichts mit dem Tod ihres Schwiegervaters zu tun. Sie war tiefer und persönlicher, eine, von der nur wenige wussten, die aber Teil ihres Lebens war, seit ihr Sohn Sarken geboren wurde. Der Junge hatte ein kürzeres Bein, und dieses Unglück des Schicksals nagte an ihrer Seele.

Dschamilja bemühte sich, ihren Schmerz nicht zu zeigen, doch die schwere Bürde einer Mutter, deren Kind mit einer Schwierigkeit kämpft, konnte sie nicht unberührt lassen.

In ihrem Herzen brannte stets ein aufrichtiger Gebet: „Möge Allah mir die Kraft geben, dieses Leid würdevoll anzunehmen, meinen Sohn mit Liebe zu erziehen und seinen Schmerz durchs Leben zu tragen.“ Diese unausgesprochenen Worte, verborgen hinter ihrem Blick und ihren Gesten, waren für sie eine Quelle innerer Stärke, Hoffnung und Liebe, trotz des Schattens, der immer über ihrem Glück lag…

– Weißt du, Kadyrbek, – wandte sich Baymuchambet mit rauer Stimme an seinen mittleren Sohn, – du hattest wahrscheinlich mehr Glück als alle anderen. Durch den Willen des Allmächtigen bist du der Einzige aus unserem großen Stamm der Tabyn, der in die Heimat seiner Vorfahren am Ufer des Flusses Elek zurückkehren konnte.

– Ake, – antwortete Kadyrbek zurückhaltend, spürend, dass in den Worten seines Vaters nicht nur Bitterkeit, sondern auch ein Hauch von Ironie lag, mit der der alte Mann die neue Realität betrachtete, – er heißt jetzt Ilek.

Kadyrbek war ein diplomierter Meister für Eisenbahnstrecken. Nach seinem Abschluss wurde er zur Arbeit an die Station Akkemir geschickt, die einst Teil des Familienbesitzes ihrer Vorfahren vor den Reformen Stolypins war. Dieser Ort wurde für ihn zum Symbol der Rückkehr, wenn auch unter einem neuen Namen, in die Heimat.

Baymuchambet nickte schweigend, bemüht, die Welle der Dankbarkeit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. In seinen Gedanken tauchten Worte des Dankes an die Himmel auf, dass wenigstens einer seiner Söhne auf dieses heilige Land zurückkehren konnte. Die Steppe, der Fluss, die vertrauten Horizonte – all das war wieder ein Teil ihres Lebens geworden.

Doch nicht alles war perfekt. Baimukhambet verspürte keinen besonderen Schmerz darüber, dass der Vorgesetzte seines Sohnes Isengalijew war, derselbe Übersetzer, der einst vielleicht den Stolz der Kasachen verletzt hatte. Auch wenn seine Rolle in dieser neuen Ordnung ungewöhnlich und manchmal umstritten war, verstand der alte Bai, dass sie sich den neuen Umständen irgendwie anpassen mussten.

– Das Wichtigste, mein Sohn, ist, dass du zurückgekehrt bist, – sagte Baimukhambet mit väterlichem Segen zu Kadyrbek. – Wer dein Vorgesetzter ist, spielt keine Rolle. Wir alle verändern etwas im Leben, auch wenn wir oft selbst nicht verstehen, was genau.

Der alte Bay dankte außerdem dem Allmächtigen dafür, dass sein mittlerer Sohn Kadyrbek eine Frau gefunden hatte, die wie die Verkörperung des Ideals einer kasachischen Schwiegertochter war. Zauresch, eine schüchterne und bescheidene Schönheit, bewegte sich im Haus mit einer solchen ehrfurchtsvollen Ruhe, dass Baimukhambet manchmal dachte: Sie berührt den Boden nicht wirklich, sondern schwebt lautlos darüber. Ihr Respekt gegenüber den Eltern und ihrem Mann war bewundernswert – bedingungslos, aufrichtig und vorbildlich.

Doch eines ließ den alten Bay nicht zur Ruhe kommen. Wie konnte eine so makellose Frau eine so freche und lebhafte Enkelin wie Altyn zur Welt bringen? Das kleine schwarzäugige Mädchen mit runden, von der Sonne gebräunten Wangen, die oft von getrockneten Tränen verschmiert waren, war wie der Wind in der Steppe – ungestüm, unberechenbar und unaufhaltsam. Sogar jetzt, in diesem traurigen Moment, als die ganze Familie mit Tränen in den Augen um sein Sterbebett saß, schaffte es Altyn immer wieder, in die Jurte zu stürmen, laut schreiend um ihren Großvater herumzulaufen, und dann wieder nach draußen zu rennen, wo sie lautstark Hühnern und Lämmern hinterherjagte.

Alle Versuche der Erwachsenen, sie zu beruhigen, blieben erfolglos. Selbst die strengen Ermahnungen ihrer Mutter konnten das ungestüme Wesen des fünfjährigen Mädchens nicht bändigen. Doch als Altyn erneut in die Jurte stürmte und die Familie sie kollektiv mit einem zischenden „Pssst!“ zum Schweigen bringen wollte, lächelte Baymuchambet plötzlich. Er begriff, dass dieses kleine Mädchen ihn absichtlich an etwas Wichtiges erinnerte.

Mit ihrem ganzen Verhalten schien Altyn zeigen zu wollen, dass das Leben voller Freude ist, dass es zu strahlend ist, um darauf zu verzichten. Ihr heller Lachen, ihre unerschöpfliche Energie und ihre furchtlosen Streifzüge erfüllten den Raum mit einem Licht, das dem Schatten des drohenden Verlusts standhielt. Der alte Mann blickte auf seine Verwandten, traurig, bedrückt, die sich gedanklich bereits von ihm verabschiedet hatten, und erkannte, dass nur Altyn das Unvermeidliche nicht akzeptierte. Sie schien für ihn zu kämpfen und wollte nicht aufgeben.

Und in diesem Moment spürte Baymuchambet einen starken Lebenswillen. Er stellte sich vor, wie er seine Enkelin packt, sie hoch in die Luft unter das Dach der Jurte wirft, ihr perlendes Lachen hört und mit ihr lacht, als wären alle Sorgen und Mühen seines Lebens in diesem unbeschwerten Augenblick verschwunden.

– Allah sei ihr gnädig! – flüsterte der Sterbende leise mit einer Hoffnung, die sein Herz mit Wärme und Dankbarkeit erfüllte…

Am seltensten war der jüngste Sohn, Danda, im Elternhaus zu sehen. Seine seltenen Besuche waren immer von derselben Erklärung begleitet:

– Der Dienst lässt es nicht zu, – sagte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern, als wolle er um Verständnis bitten.

Nachdem er das erste Mal losgeschickt worden war, um einen Viehtransport nach Moskau zu begleiten, nahm sein Leben eine unerwartete Wendung. Danda wurde Zugbegleiter für Fernzüge und trat später in eine Militärschule ein. Nach deren Abschluss diente er in den Einheiten des NKWD, und von da an war sein berufliches Leben von einem Schleier des Geheimnisses umgeben. Die Familie konnte nur Vermutungen über seine Tätigkeiten anstellen, aber Fragen zu stellen, war nicht üblich.

Danda interessierte sich für das Wohlergehen seiner Familie, sprach jedoch über sein eigenes Leben kaum und nur oberflächlich, als hätte sich zwischen ihm und der Familie eine unsichtbare Mauer aufgebaut. Besonders überrascht war die Verwandtschaft von seiner Entscheidung, eine Russin zu heiraten, und dazu eine deutlich ältere Frau. Seine Frau hieß Anastasia, und niemand konnte verstehen, warum Danda sich gerade für sie entschieden hatte. Es schien den Traditionen zu widersprechen, doch die Familie Schukenow war es längst gewohnt, die Entscheidungen des jüngsten Sohnes nicht zu hinterfragen. Anastasia wurde stillschweigend und ohne Kritik akzeptiert – als Tatsache.

Die Ehe von Danda und Anastasia blieb kinderlos, und eines Tages, bei einem Familienessen, sprach Danda nach einigen Gläsern zum ersten Mal über ihr Schicksal.

– Die Jahre im Gefängnis und in der Verbannung haben ihre Gesundheit zerstört, – sagte er und senkte den Blick in sein Glas, als würden ihm diese Worte unendlich schwerfallen.

Dieser Satz hing wie ein Echo von etwas Unfassbarem im Raum. Niemand am Tisch brachte ein Wort hervor.

«Wie? Wann? Wofür?» – Diese Fragen lagen allen Anwesenden auf der Zunge, doch sie wurden nicht ausgesprochen. Niemand wagte, die Stille zu brechen, als käme der unsichtbare Befehl, keine Fragen zu stellen, direkt von Danda.

Der Blick des sterbenden Baymuchambet glitt verstohlen zu Anastasia. Sie saß ruhig und gefasst da, als ob die Worte ihres Mannes jemanden fernen beträfen und nichts mit ihr zu tun hätten. In ihren Augen lag die Weisheit eines Menschen, der zu viel durchlebt hatte, um sich von Vorwürfen oder Mitleid berühren zu lassen.

Baymuchambet schloss die Augen und sah die Steppe vor sich, endlos und im goldenen Licht der untergehenden Sonne gebadet. Inmitten dieser majestätischen Weite erschien wie aus dem Herzen der Natur eine anmutige Gazelle. Sie rannte leichtfüßig dahin, als trüge sie der Wind, und überholte die Grasbüschel der Steppenpflanzen, die den Horizont zu füllen schienen.

Das Tier verhielt sich seltsam: Es blickte oft zurück, suchte den Blick des Alten und hielt manchmal sogar inne, als wolle es ihm die Möglichkeit geben, näher zu kommen. Die Gazelle gab einen leisen, pfeifenden Laut von sich, eine Mischung aus einem Ruf und einer Warnung. Ihre Bewegungen waren so anmutig und sicher, dass Baimuchambet spürte – das war nicht einfach ein Tier, sondern ein Zeichen von oben.

Mit zitternden Händen streckte er sich nach ihr aus, als wollte er diesen Moment festhalten oder das entschwindende Bild bewahren. Ein schwaches, fast kindliches Lächeln huschte über sein Gesicht.

– Warte nur, du wirst schon sehen, was du davon hast, – sagte er halbscherzend, fast flüsternd, zu der Gazelle.

Die Gazelle hielt für einen Moment inne und drehte den Kopf. In ihren dunklen Augen spiegelte sich die Steppe wider – ewig, grenzenlos, still. Sie wartete auf ihn, rief ihn zu sich.

Baymuchambet fühlte eine außergewöhnliche Erleichterung, als hätten alle Sorgen, Lasten und Kümmernisse seines langen Lebens sich im Steppenwind aufgelöst.

Plötzlich, als hätte sie etwas Unsichtbares erschreckt, schwang die Gazelle ihre kleinen, aber eleganten Hörner mit den doppelten Verzweigungen und stürzte sich hinab, auf einen sanften, weißen Hang zu. Ihr rasender Lauf führte zu einem breiten Fluss, der nicht einfach in die Ferne floss, sondern – wie Baimuchambet plötzlich begriff – in eine andere Welt, ins Jenseits. Dieses Wissen kam ihm wortlos, mit einer stillen Klarheit, wie der Morgen, der unweigerlich anbricht.

Am gegenüberliegenden Ufer erblickte er die Silhouette einer Frau. Sie stand regungslos da, ihr langes, dichtes Haar fiel ihr über die Schultern, als sei es die lebendige Fortsetzung des Steppenwinds. Es war Abyz, seine geliebte und einzige Ehefrau, die vor einigen Jahren von ihm gegangen war. Sie winkte ihn nicht heran, rief ihn nicht – sie wusste, dass er von selbst zu ihr eilen würde. Mit derselben Liebe und unveränderlichen Treue, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte.

Der Alte machte einen Schritt nach vorn, spürte, wie die Kräfte seinen Körper verließen, aber seine Seele erfüllte sich mit heller Freude. Sein Herz setzte aus, im Vorahnung auf das Wiedersehen mit dem Menschen, der ein Teil von ihm war – sein Anfang und sein Ende.

Als sich die Eheleute auf den Höhen der jenseitigen Welt wieder begegneten, schien die Welt in Harmonie zu sein. Sie blickten hinunter, dorthin, wo ihre Kinder und Enkel geblieben waren, wo das Leben im unaufhörlichen Strom der Zeit weiterging. Nun wachten sie, für alle unsichtbar, über ihre Nachkommen, als würden sie ihren Stamm mit unsichtbaren Flügeln umhüllen.

Doch ihr Blick ruhte besonders oft auf zwei Gestalten: dem Jungen mit den sanften, aber traurigen Augen – Sarken – und dem Mädchen mit dem kecken Glanz in ihren kohleschwarzen Augen – Altyn. Abyz und Baymuchambet wussten, was niemand von den Lebenden wissen konnte: Das Schicksal der Schukenow-Familie würde von diesen beiden abhängen. Und in ihren kleinen, aber starken Händen würde nicht nur die Zukunft ihrer Familie liegen, sondern vielleicht auch die der Steppe, über die der ewige Wind wehte.

Sarken. Poltorarubel

Die Bewohner von Shubar-Kuduk und seiner Umgebung weigerten sich, den Kalender zu glauben, der hartnäckig behauptete, es sei Ende Dezember 1941. Die Zeit verging, aber der Winter war nicht zu spüren. Es hatte noch nie Schnee gegeben. Die schneeweißen Flocken schienen in den flauschigen Wolken festzuhängen, wollten die warmen Himmelsdecken nicht verlassen und auf die kahle, gefrorene Steppe herabfallen, um sie mit einer gemütlichen Decke zu bedecken.

Auf der einen Seite hätte das Fehlen von Winterstürmen wie ein Segen erscheinen können. Die Viehzüchter freuten sich, dass ihre Herden nicht durch Schneewehen nach Futter suchen mussten. Die dürftige Vegetation der kasachischen Steppe blieb zugänglich: trockene Büschel von Timotheegras, blaugrauer Wermut mit bitterem Duft und zerbrechliche Büschel von Feuerschwaden. Besonders wertvolles Futter für das Vieh war das Getreide des Schafgrases und der stachelige Kamelsgras, von dem die Steppe-Tiere mit etwas Mühe überleben konnten.

Aber am Rande eines der Dörfer in der Nähe des Haltepunkts, wo sich die Ältesten um das Feuer versammelten, wurden besorgte Gespräche geführt. Die Ak-Sakals schüttelten ihre Köpfe und prophezeiten Unglück. Nach alten Zeichen konnte man nach einem schneefreien Winter weder gute Weiden noch eine reiche Ernte erwarten. Das Fehlen von Schnee bedeutete, dass der Boden im Frühling trocken bleiben würde, ohne die lebenswichtige Feuchtigkeit, und das war eine Katastrophe für alles, was von der bescheidenen Großzügigkeit der Steppe abhängt.

Die Leute starrten schweigend in die grauen, bewegungslosen Wolken, in der Hoffnung, dass sie endlich mit Schnee herunterkommen würden. Aber der Himmel schwieg hartnäckig, als hätte er selbst Angst, auf ihre Bitten zu antworten.

Weit im Westen wütete der Krieg schon seit einem halben Jahr. Der junge Hirte Sarken wusste, dass es früher oder später jeden betreffen würde, und selbst im Hinterland müssten die Menschen die Zügel noch fester anziehen. Er sah deutlich, wie die Last des Krieges bereits auf ihre kleine Steppengemeinschaft fiel. Wenn er früher mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln beobachtete, wie die Ältesten in Ehrfurcht ihr fünfmaliges Gebet verrichteten, so hob auch er jetzt oft die Hände zum Himmel, in der verzweifelten Hoffnung, dass der Schnee endlich die vertrocknete Erde umhüllen würde.

In Sarkens Seele wuchs die Unruhe, die sich allmählich zu Angst verwandelte. Die mögliche Hungersnot ängstigte ihn ernsthaft. Trotz seines jungen Alters wusste er schon, was das bedeutete. Als siebenjähriger Junge hatte er die Folgen der Goloschtschekin-Hungersnot der 30er Jahre am eigenen Leib erfahren. Diese schreckliche Zeit, die nach Gennadij Goloschtschekin benannt wurde, dem Sekretär des Kasachischen Regionalkomitees der VKP(b), hinterließ tiefe Spuren im Gedächtnis Sarkens. Er erinnerte sich, wie viele Menschen, ausgemergelt und gequält, in ihren Häusern und auf den Straßen starben. Damals verhungerten fast die Hälfte des kasachischen Volkes, und dieses Unglück prägte sein Bewusstsein für immer.

Jetzt, als er auf die erschöpfte Steppe blickte, schien Sarken die düsteren Schatten der Vergangenheit zu sehen, die bereit waren, erneut über ihr Leben hereinzubrechen. Er wollte nicht, dass die gleichen schrecklichen Prüfungen seine Angehörigen wieder trafen, und das ließ ihn mit ebenso viel Eifer beten wie die Ältesten des Dorfes.

Für Sarken konnte es nichts Schlimmeres geben als das Gefühl, das er schon einmal erlebt hatte, als der Hunger ihn zu Taten drängte, an die er in besseren Zeiten nie gedacht hätte. Essen war damals der Lebenssinn, das einzige Ziel, wegen dem er bereit war, sich zu erniedrigen, zu betteln und manchmal sogar zu stehlen. Es waren Tage, in denen der Hunger die Scham ersetzte, und das Überleben rückte alles andere in den Hintergrund.

Er litt unter Schlaflosigkeit. Wenn er die Augen schloss, fand er keinen Frieden – stattdessen tauchten vor ihm Bilder von Speisen auf, so lebendig, dass er beinahe ihren Geschmack spürte. Aber wenn er die Augen öffnete, holte ihn die Realität wieder in die armselige Wirklichkeit zurück, wo jede Nahrung ein Luxus war. Sarken erinnerte sich, wie er eines Tages, das Sabbern im Mund, einen Spatz beobachtete, der zufällig ins Haus geflogen war. Der kleine Vogel, der gegen das Glas schlug, wurde für ihn zum Symbol der unerreichbaren Rettung.

Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, fing Sarken den Spatz und versteckte sich dann am Rand des Dorfes, in einem Tal. Mit Mühe zupfte er ein paar Federn aus. Dort, mit einem kleinen Feuer aus Zweigen, briet er hastig den Vogel, ohne sich um eine ordnungsgemäße Zubereitung zu kümmern. Er aß ihn fast roh, ohne Abscheu oder Angst, nur mit unermesslicher Erleichterung, dass wenigstens etwas in seinen leeren Magen gelangte.

Aber die Freude war nur von kurzer Dauer. Bald kamen quälende Schmerzen, Erbrechen, Schwäche im ganzen Körper. Auf dem Boden liegend, erschöpft und bewegungsunfähig, erlebte er zum ersten Mal in seinem Leben ein fremdes, beängstigendes Verlangen – aufzugeben. Sarken hatte das Gefühl, dass der Tod eine Befreiung von den endlosen Qualen sein könnte. Doch er überlebte, wenn auch mit Mühe, und diese Erfahrung blieb für immer bei ihm, was ihn besonders empfindlich gegenüber der Bedrohung durch den Hunger machte.

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